Erfurt Angst um afghanische Familienmitglieder: Aufnahme gefordert
Mit wachsender Sorge und Angst verfolgt Amin Sarkhosh die Meldungen aus seinem Heimatland Afghanistan. Der 34-Jährige arbeitete einst als Übersetzer für die Bundeswehr und kam bereits 2014 nach Deutschland. "Ich lebe hier in einem friedlichen Land, aber meine kleine Schwester ist in Afghanistan in Lebensgefahr", sagt Sarkhosh. Sie sei erst vor einigen Tagen aus Angst vor den radikalen Islamisten nach Kabul geflüchtet. Dort darf die 21-Jährige jetzt schon nicht mehr ohne männliche Begleitperson auf die Straße, berichtet Sarkhosh.
"Ich versuche alles, um meine Schwester nach Deutschland zu holen." Denn Sarkhosh weiß aus eigener, bitterer Erfahrung: "Die Taliban achten nicht auf Menschenrechte, die wollen das Scharia-Recht durchsetzen und bestrafen auch Familienmitglieder." In den Jahren, in denen er für die Bundeswehr in Afghanistan als Ortskraft arbeitete, erhielt er nach eigenen Worten zunächst Morddrohungen von der Taliban. Anfang 2013 wurde dann seine erste Frau auf dem Weg zur Uni erschossen. Daraufhin verließ Sarkhosh Afghanistan.
Heute lebt er mit seiner Frau und den beiden in Deutschland geborenen Kindern in Erfurt. Um seinen Landsleuten zu helfen, gründete Sarkhosh 2018 den Verein Move, der Flüchtlinge berät und unterstützt. Gemeinsam mit anderen Organisationen rief der Verein zu einer Demonstration am Mittwoch in Erfurt auf. Es gehe um sichere Fluchtwege und schnelle Aufnahmeprogramme. Die Mission von Deutschland in Afghanistan sei ohne die Ortskräfte nicht möglich gewesen, betont Sarkhosh.
Mehrere Hundert Menschen unterstützten eine schnelle Aufnahme afghanischer Ortskräfte und deren Familien. Auf Transparenten stand unter anderem "Luftbrücke jetzt" oder "Jetzt evakuieren." Redner, die aus Afghanistan stammen, berichteten bei der Kundgebung über die Situation in ihrer Heimat, ihre Bestürzung und die Sorge um ihre Angehörigen. An der Aktion beteiligten sich nach Polizeiangaben etwa 300 Menschen.
Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) sicherte die Aufnahme afghanischer Ortskräfte und deren Familien zu. Wenn diese Menschen für deutsche Institutionen tätig gewesen seien, dann sei es auch die Pflicht, nun zu handeln und für Integration die Weichen zu stellen, schrieb Ramelow auf Twitter. Wie viele Ortskräfte der Freistaat aufnimmt, konnte das Migrationsministerium zunächst nicht sagen. Entscheidend sei die Lage vor Ort, hieß es.
Dass Deutschland entschlossener Verantwortung für die Ortskräfte und deren Familienangehörigen übernimmt, fordert auch der Flüchtlingsrat Thüringen und geht von rund 7000 Betroffenen aus. Nach dem Rückzug ausländischer Streitkräfte hatten die Taliban die Macht in Afghanistan schneller als erwartet wieder an sich gebracht.
Afghanen, die als Übersetzer, Fahrer oder andere Hilfskräfte für ausländische Organisationen gearbeitet haben, gelten als gefährdet. Unter schwierigsten Bedingungen hat die Bundeswehr nun erste Menschen aus Kabul ausgeflogen. Die Bundeswehr war erst Ende Juni nach einem 20-jährigen Einsatz aus Afghanistan abgezogen.
Angesichts der zunehmend außer Kontrolle geratenen Lage vor Ort hatte sich Thüringens Migrationsminister Dirk Adams (Grüne) zu Wochenbeginn für ein Landesaufnahmeprogramm ausgesprochen. Es soll Afghanen, die zum großen Teil schon lange hier leben und arbeiten, ermöglichen, ihre Angehörigen nachzuholen.
Laut Flüchtlingsrat leben derzeit 8000 Afghanen in Thüringen. Seit Monatsbeginn hat der Freistaat nach Angaben von Minister Adams rund 60 Ortshelfer und Angehörige aus Afghanistan aufgenommen, die deutsche Behörden und Organisationen unterstützt haben.