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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ehemalige Sexarbeiterin im Gespräch "Freiwillig macht das eigentlich niemand"
Anna hat sich vier Jahre lang prostituiert. Heute besucht die Aussteigerin weiterhin regelmäßig die Dortmunder Bordellstraße – aber aus einem anderen Grund.
Anna (Name von der Redaktion geändert) hat es ihrer Mutter bei einem Restaurantbesuch gesagt. Geplant hatte die 27-Jährige es nicht, doch dann ergab sich die Gelegenheit. Sie sprachen über Finanzen, als es aus Anna herausplatzte: "Ich habe mich prostituiert. Vier Jahre lang." Ihre Mutter war geschockt. Auch Anna kamen unverzüglich die Bilder wieder in den Kopf: die Bettdecke vom ersten Mann, den sie besuchte, sein Geruch, der konstante Ekel, der Gedanke "gleich ist es vorbei". Anna erinnert sich noch heute an ihr betroffenes Gesicht, den mitleidigen Blick, die Fragen danach.
Heute kann die junge Frau es selbst kaum glauben, dass sie mit Anfang 20 in die Welt von Freiern, käuflichem Sex und anonymen Begegnungen rutschte. Über ihre Motive sagt sie: "Meine Mutter hat vom Amt gelebt und hatte nie viel Geld. Als ich ein freiwilliges soziales Jahr in einem Altenheim gemacht habe, durfte ich nur um die 100 Euro davon behalten – der Rest wurde mit den Sozialleistungen verrechnet." Inzwischen hat sich die Gesetzeslage geändert: Jugendliche können monatlich jetzt 538 Euro dazuverdienen, ohne dass sich das auf das Bürgergeld der Eltern auswirkt.
Sex gegen Geld: Gefährliche Situationen und extreme Angst
Doch als Anna akute Geldsorgen hat, sieht sie keinen anderen Ausweg, als sich online auf einer Sexkauf-Plattform Freiern anzubieten. Eine Freundin gibt ihr den Tipp dazu. Mit wie vielen Männern sie sich in den Jahren getroffen hat – Anna weiß es nicht mehr. Aber ein Gefühl ist ihr immer noch präsent: "Ich will dich nicht, du alter Sack." Das habe sie oft gedacht. Anna trifft sich mit den Freiern in Hotels, in Privatwohnungen, an abgelegenen Orten im ganzen Ruhrgebiet. "Es gab auch Situationen, in denen ich es abbrechen musste, weil es zu heftig wurde", erinnert sich die junge Frau. Mitten in der Nacht habe sie sich teilweise ohne Auto in fremden Wohnungen aufgehalten. Manchmal hat sie extreme Angst verspürt. In welche Gefahr sie sich dabei teilweise begeben hat: Anna hat es erst später realisiert.
"Man schlüpft in eine andere Rolle, performt nur ein Schauspiel", sagt sie. Ständig seien ihre Gedanken darum gekreist: "Gleich ist es vorbei, gleich hast du das Geld." Der Absprung ist für die junge Frau nicht leicht gewesen. Ans Aussteigen habe sie mehrmals gedacht, doch die Sorge vor finanzieller Not ist zu groß. Bis sie ihren Freund kennenlernt. "Er hat mich so angenommen, wie ich bin, und mich nicht nur aufs Körperliche reduziert", sagt die 27-Jährige.
Heute engagiert Anna sich bei "Sisters e.V."
Mit ihm löscht sie ihre Online-Profile, reagiert auf Anrufe von Freiern nicht mehr. Heute arbeitet Anna in einer Mädchenschutzstelle, hat ihre Erlebnisse in einer Therapie aufgearbeitet. Doch Annas Geschichte im Rotlichtmilieu ist damit nicht vorbei. Sie nutzt ihre Erfahrungen, um anderen Frauen zu helfen – und schließt sich der Dortmunder Ortsgruppe des "Sisters e.V." an. Der gemeinnützige Verein setzt sich seit 2015 für ein Verbot von Prostitution nach dem nordischen Modell ein und will Frauen Ausstiegshilfe bieten.
Im Rahmen ihrer dortigen Tätigkeit besucht Anna einmal monatlich die Dortmunder Linienstraße. Drei weitere Frauen von "Sisters" begleiten sie. In etwa 16 Häusern bieten Frauen auf der Linienstraße Sex gegen Geld an – 30 Euro für 15 Minuten. "Das ist der Standardpreis. Viele Freier drücken den Preis noch auf 20 oder 25 Euro", weiß Anna. Sechs bis sieben Freier müsse man bedienen, um überhaupt die Tagesmiete reinzuholen, die die Frauen für ihren Raum entrichten müssen.
Grenzüberschreitungen gegenüber Prostituierten
Sie duzt sich mit den Prostituierten, bringt ihnen Blumen und Süßigkeiten mit. Auf die Frage: "Wie läuft der Tag bislang?" kriegt sie nicht immer ehrliche Antworten, ist sie sich sicher. Die Aussage "Mir geht es gut" sei oft eine Schutzbehauptung. Anna hat Grenzüberschreitungen von Freiern mehrmals beobachtet. "Frauen werden wie ein Stück Fleisch behandelt. Die Frage lautet immer: 'Was kostest du?'", sagt die Aussteigerin. Männer würden den Frauen ungefragt an die Brüste fassen, sie begutachten wie Vieh und sich respektlos aufdrängen. Ob alle Frauen über 18 Jahre alt sind – Anna war sich bei ihren Besuchen nicht immer sicher.
"Der Großteil kommt aus Osteuropa, teilweise haben die Frauen in ihrer Heimat schon mehrere Kinder", sagt sie. Manches haben die Frauen von der Linienstraße ihr anvertraut. Die Wege, wie sie genau nach Deutschland gekommen sind, bleiben aber auch für Anna und ihre Kolleginnen meist schleierhaft. "Die Familien in der Heimat dürfen in der Regel nicht wissen, was die Frauen hier arbeiten", sagt Anna.
Ausbeutung und Drogenmissbrauch
Sie wisse von einer Frau, bei der beispielsweise das Studium in Deutschland nicht anerkannt worden sei. Regelmäßig würden die Frauen in ihre Heimat reisen. "Wir sehen auch, wie weggetreten oder aufgedreht manche Frauen sind und vermuten dann, dass sie unter Drogeneinfluss stehen", sagt Anna. Die Freier interessiere das nicht. Ebenso wenig habe sie jemals mitbekommen, dass ein Freier die Freiwilligkeit der Prostituierten hinterfragt habe.
"Denen geht es um Optik, um den Preis und die Performance. In Freier-Foren tauschen sie sich sogar darüber aus, wer was am besten kann und anbietet", sagt Anna. Die Klientel sei gemischt – vom Anzugträger, der beschämt auf den Boden blickt, bis zu demjenigen, der stolz durch die Linienstraße torkelt. "Sie alle sollten die Freiwilligkeit dieser Frauen kritisch hinterfragen und sich bewusst machen, dass sexueller Konsens nicht durch Bezahlung hergestellt werden kann", meint Anna. Wirklich freiwillig prostituiere sich keine Frau. "Sie haben einfach keine Alternativen. In einer emanzipierten Gesellschaft gäbe es Prostitution nicht", sagt Anna.
Ausstiegshilfe konnten sie und ihr Team bereits bei einer Frau aus Rumänien leisten – etwa, indem sie ihr beim Bürgergeldantrag und bei der Suche nach einer Notschlafstelle halfen. Noch aber bleibt viel zu tun. Präsent zu sein, ist ein erster Schritt, meint Anna – und beständig die Hand zu reichen, sollte auch bei einer der Frauen auf der Linienstraße der Tag gekommen sein, an dem sie einen Schlussstrich ziehen will.
- Eigene Recherchen