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Prozessstart gegen fünf Polizisten: "Vorrücken und Einpfeffern – das ganze Programm"


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Prozessstart gegen fünf Polizisten
Die Staatsanwaltschaft nennt es Totschlag


18.12.2023Lesedauer: 5 Min.
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In Dortmund kam der 16-Jährige Mouhamed durch Schüsse der Polizei ums Leben. (Quelle: Anja Cord/imago-images-bilder)
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Ein 16-jähriger Flüchtling sitzt vor einer Jugendhilfeeinrichtung auf dem Boden, hegt offenbar Selbstmordgedanken. Sein Betreuer ruft die Polizei, wenig später wird der Senegalese erschossen. War das Vorgehen verhältnismäßig?

Es ist 16.25 Uhr an einem Spätsommertag im August, als G. den Notruf der Dortmunder Polizei wählt. Ein Jugendlicher sitzt im Innenhof der Jugendhilfeeinrichtung St. Elisabeth und hält sich ein Küchenmesser gegen den Bauch. G. ist Betreuer der Einrichtung und ruft Hilfe. Er weiß, den 16-Jährigen quälen Suizidgedanken. Beamte treffen ein, sollen die Situation lösen. Er hat den Hörer noch am Ohr, da knallt es laut. "Du meine Güte", entfährt es ihm. Sekunden später legt er auf.

Rund eineinhalb Stunden später wird im Klinikum Dortmund ein Junge für tot erklärt, der sich mit 14 Jahren vom Senegal aus auf die gefährliche Reise nach Europa begab. Der seine Eltern anrief, alles sei gut. Sie sollen sich keine Sorgen machen. Dem es aber nicht gut ging. Der Obduktionsbericht wird nüchtern beschreiben, was das Leben des nun 16-Jährigen beendete: fünf Kugeln. Eine trifft ihn in den Oberschenkel, eine in den Bauch, eine ins Gesicht, eine in die Schulter sowie in den Unterarm. Die Staatsanwaltschaft wird es Totschlag nennen.

Am Dienstag startet der Prozess gegen fünf Polizisten

Aufgrund des tödlichen Polizeieinsatzes gegen Mouhamed Dramé müssen sich ab Dienstag fünf Beamte vor dem Landgericht in Dortmund verantworten. Der Schütze wegen Totschlags, zwei weitere Polizistinnen und ein Polizist wegen gefährlicher Körperverletzung sowie der Dienstgruppenleiter wegen Anstiftung zur gefährlichen Körperverletzung. Die Frage, die es vor Gericht zu klären gilt: Warum musste Mouhamed sterben? Weil er die Beamten bedrohte und gefährdete? Oder weil sie Fehler machten?

Es ist schwer zu sagen, welche Kette von Ereignissen dazu führte, dass der Junge an diesem Sommertag über ein Messer gebeugt im Innenhof der Dortmunder Einrichtung kauerte. Es ist deswegen schwer, weil er Menschen in Deutschland offenbar das erzählte, was er wohl glaubte, sagen zu müssen, um einer Abschiebung aus Deutschland zu entgehen.

Die Mutter tot, der Vater, den er nie kennenlernte, als Soldat im Krieg gefallen. Keine Geschwister. Ein enger Jugendfreund im Mittelmeer ertrunken. Er selbst bei seiner Flucht in Marokko überfallen und ausgeraubt. Erlebnisse, die ein Kind traumatisieren können. Er berichtet Helfern von "Flashbacks", kann schlecht allein sein. Nur: Vieles davon stimmt nicht. Die Eltern leben im Senegal und glaubten bis zuletzt, ihr Sohn komme zurecht. Er scherzte mit ihnen am Telefon, schickte ihnen und seinen neun Geschwistern Fotos, auf denen er lächelt.

Mouhameds Eltern wohnen in einem Dorf im Senegal

Ein Reporter der "Welt" machte die Familie ausfindig. Mouhamed stammt aus Ndiafatte, einem 500-Einwohner-Dorf, in dem er mit drei Brüdern und sechs Schwestern aufgewachsen ist. Das Dorf ist rund vier Autostunden von Dakar, der senegalesischen Hauptstadt, entfernt. Hier wurde Mouhamed zwei Wochen nach seinem Tod auf einer Wiese in Nähe der elterlichen Hütte beerdigt. Die Bürgermeisterin flog nach Deutschland, um ihn abzuholen. Einen Tag vor seinem Tod führte er der "Welt" zufolge einen Videoanruf mit seinem Bruder Sidy, der im Prozess gegen die fünf Polizisten zusammen mit Mouhameds Vater Nebenkläger ist. Der Welt sagte der 34-Jährige: "Er war sehr gut drauf, machte Witze und brachte alle zum Lachen." Auch der Vater berichtete der Zeitung von einem stets glücklichen Jungen, der für sein Leben gern Fußball gespielt habe.

Waren Mouhameds Suizidgedanken frei erfunden? Wohl nicht. Mouhamed hatte tatsächlich Probleme. Noch am Tag vor dem tödlichen Einsatz hatte sich der 16-Jährige auf der Polizeiwache Nord gemeldet. "Hospital, Hospital", soll er t-online-Informationen zufolge gerufen haben – und hier bereits mit spanischen Wortfetzen Selbstmordgedanken geäußert haben. Sanitäter brachten ihn in eine Kinder- und Jugendpsychiatrie – hier nahm man ihn auf, allerdings nur für eine Nacht.

Die Mediziner der Klinik im Dortmunder Stadtteil Aplerbeck attestierten ihm laut Arztbericht eine schwere depressive Episode, entließen ihn jedoch mit der Begründung, keine Eigen- oder Fremdgefährdung mehr feststellen zu können. In einem Gespräch, das von einem französischen Dolmetscher begleitet wurde, hatte er den Ärzten mitgeteilt, keine Selbstmordgedanken mehr zu haben. Die Ärzte rieten dennoch, Mouhamed möglichst nicht alleine zu lassen, da er in diesen Situationen vom Wiedererinnern traumatischer Ereignisse berichtete.

Einsatzleiter Thorsten H. legte den Ablauf fest

Einen Tag später, an einem warmen Sonntagnachmittag, saß er an der Kirchenmauer der Jugendeinrichtung in der Dortmunder Nordstadt. Wenige Meter entfernt trafen t-online-Informationen zufolge kurz vor 16.30 Uhr auf der Holsteiner Straße der zum Notruf gerufene Einsatzleiter der Polizei Dortmund, Thorsten H. (55), kurz darauf das gesamte Team ein. Thorsten H. soll hier den Einsatzplan bekannt gegeben haben.

Ziel sollte es sein, Mouhamed dazu zu bringen, das Messer aus der Hand zu geben. Hierfür sollten zunächst Beamte in Zivil mit ihm sprechen, wenn dies nicht funktioniert, Pfefferspray versprüht werden, notfalls Taser zum Einsatz kommen. Zur Absicherung des Einsatzes sollte ein Polizist eine MP5-Maschine mitgenommen werden.

Um 16.44 Uhr soll der erste Zivilbeamte auf ihn zugegangen sein. Mouhamed soll den Kopf nach unten gerichtet haben, als der Polizist ihn angesprochen haben soll. Auch auf einen Pfiff soll er nicht reagiert haben. Der nächste Ansprechversuch in Zivil – diesmal auf Spanisch – soll ebenfalls gescheitert sein. Wesentlich hierbei: Eine Aufforderung, das Messer wegzulegen, hat es laut Zeugenaussagen bis zu diesem Zeitpunkt und auch bis zum tödlichen Ende des Polizeieinsatzes nicht gegeben.

Bürgermeister Westphal erschien auf Trauerfeier

Auch aus diesem Grund löste der tödliche Polizeieinsatz ein riesiges Medienecho aus. Die Diskussion um willkürliche Polizeigewalt entflammte bundesweit. Ein schwarzer Jugendlicher, erschossen von der Polizei im Brennpunktviertel Dortmunds – nicht wenige warfen der Polizei willkürliche Gewalt vor.

Dortmunds Bürgermeister, Thomas Westphal (SPD), besuchte die Trauerfeier Ende August 2022 höchstpersönlich und bat neben dem aufgebahrten Sarg des Jugendlichen darum, beteiligte Polizisten nicht vorzuverurteilen. Über tausend Demonstranten zogen dennoch mehrmals durch die Innenstadt, skandierten "Mörder, Mörder" und forderten "Gerechtigkeit für Mouhamed".

Eskaliert ist die Situation offenbar kurz nachdem die Zivilbeamten dem Einsatzleiter per Funk den Stand mitteilten. Laut Funkprotokoll soll Thorsten H. nun Jeannine B., die sich hinter einem etwa 1,8 Meter hohen Zaun befand, angewiesen haben: "Vorrücken und Einpfeffern. Das ganze Programm. Die ganze Flasche." Sechs Sekunden soll die Beamtin daraufhin Mouhamed mit dem Reizgas "eingepfeffert" haben.

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Anwältin sieht Pfefferspray als Auslöser der Eskalation

Das Pfefferspray sei ohne jegliches Problembewusstsein gegen einen friedlichen Menschen eingesetzt worden, wirft die Anwältin der Angehörigen, die im Prozess am Landgericht Dortmund als Nebenklägerin auftreten, den angeklagten Polizisten vor: "Dadurch ist erst die ganze Kette in Gang gesetzt worden, dadurch ist Dramé aufgestanden, dadurch hat er sich umgeguckt, hat sich bewegt und ist dann innerhalb weniger Sekunden erschossen worden. Im Grunde war das nur der Höhepunkt dessen, was vorher schon alles schiefgelaufen ist."

Hingegen bezeichnet Michael Emde, Verteidiger des Dienstgruppenleiters, die gesamte Anklage gegen seinen Mandanten, als "fragwürdig". Sein Mandat ist der Ansicht, dass er das "mildeste Mittel" im Einsatz gewählt und entsprechend der Dienstvorschrift gehandelt habe, teilte dieser dem WDR mit.

Wohl entscheidende Frage: Wie hielt Mouhamed das Messer?

Laut den Ermittlungsprotokollen soll Mouhamed in der Tat nach der Reizgasattacke zum ersten Mal Regung gezeigt und sich das Pfefferspray aus dem Gesicht gewischt haben, anschließend soll er sich erhoben und letztendlich auf die Beamten zugeschritten sein, berichten Zeugen.

Die Frage, die es vom Gericht zu klären gilt, ist jedoch: Wie hielt er das Messer? Keiner der Zeugen soll demnach angegeben haben, dass Mouhamed eine nach vorne gestreckte oder eine erhobene Armhaltung hatte. Kurz darauf sollen die Taserschüsse erfolgt sein. Keine Sekunde später fielen den Ermittlungsakten zufolge sechs Schüsse aus der MP5 von Fabian S. (28). Er hatte sich hinter einem Smart auf dem Kirchengelände positioniert. Fünf Kugeln trafen Mouhamed. Er wurde von Rettungssanitätern in ein Krankenhaus gebracht. Um 18.02 erlag er seinen Verletzungen.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
  • Gespräch mit Lisa Grüter, Rechtsanwältin
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