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Zum journalistischen Leitbild von t-online.A45-Sperrung in Lüdenscheid Eine Stadt am Ende ihrer Kräfte: "Die Nerven liegen blank"
Die Sperrung der A45-Brücke bringt eine Stadt an die Grenzen des Erträglichen. Der Bürgermeister kämpft gegen die Lkw an, die Bürger können nicht mehr.
Es quietscht, es brummt und es riecht nach Benzin – kurz nach 16 Uhr, mitten im Berufsverkehr auf der Altenaer Straße in Lüdenscheid. Diese ist von oben bis unten zugestopft mit Lkw. Sie fahren immer wieder an, kommen ins Stocken, bleiben stehen. Die Bremsen der Tonnenschweren Sattelschlepper sind in der Idylle der Gemeinde des nordwestlichen Sauerlandes an der Grenze zum Ruhrgebiet nicht zu überhören, zudem dröhnt Musik aus den Fahrerkabinen. Viele haben die Fenster heruntergekurbelt, um ein bisschen frische Luft zu schnappen.
Ein Zustand, der besonders für die Anwohner Lüdenscheids an die Grenzen der Belastung führt. Die Sperrung der maroden Talbrücke Rahmede sorgt seit nunmehr acht Monaten für die überlastete Ausweichstrecke mitten durch die Gemeinde – zum Unmut der Anwohner, Pendler und des Lüdenscheider Bürgermeisters. Die Folgen für die Gemeinde sind kaum auszudenken: Lärm, Schmutz und Gestank sind nur einige der Probleme, mit denen die Anwohner rund um die Umgehungsrouten zu kämpfen haben. Psychische Erkrankungen, Immobilienpreisverlust und Gesundheitsschäden werden vermutlich folgen.
Lüdenscheider Bürgermeister: "Zu viel Druck löst Gegendruck aus"
"Was wir hier erleben, ist einzigartig in der Geschichte der Stadt" sagt der Lüdenscheider Bürgermeister Sebastian Wagemeyer (SPD) zu t-online. "Die Nerven liegen bei vielen Bürgerinnen und Bürgern zunehmend blank." Besonders treffe es die Bewohner an der Lennestraße und in deren Umgebung. Sie wohnen im Epizentrum des täglichen Lärms. "Aber jetzt muss man eben Ruhe bewahren, Hektik wäre überhaupt nicht gut. Das kann ich mir als Bürgermeister auch nicht leisten", so Wagemeyer.
"Für Lüdenscheid geht es jetzt einzig und allein darum, die nervigen Lkw aus der Stadt zu bekommen", sagt Wagemeyer, dem als vom Bund ernanntem Bürgerbeauftragten in dem Verkehrsdesaster eine besondere Rolle zukommt. Als "Brückenbauer" – wie er sich gerne bezeichnet – mahnt er zugleich: "Konfrontation hat uns noch nie weitergebracht, nur der Dialog. Zu viel Druck löst Gegendruck aus. Das war schon immer so."
Fenster täglich voll mit schwarzer Schlacke
Viele Bürgerinnen und Bürger sind am Rande ihrer Kräfte. Täglich rollen etwa bei Rolf und Susanne Pieper Hunderte von Lastwagen nur wenige Meter vor ihrem Haus vorbei. Sie wohnen an der Altenaer Straße und leiden massiv unter der Lärm- und Schmutzbelästigung. "Wir sind richtig dünnhäutig geworden. Fahrende Lkw sind dabei nicht einmal das größte Problem", erzählt Rolf Pieper. Aber wenn sie bremsen – "das ist einfach unerträglich."
Das Paar macht sich auch Sorgen um seine Gesundheit: "Jedes Mal, wenn meine Frau die Fenster putzt, hat sie den Eimer voll mit schwarzer Schlacke", erzählt der Ehemann. Seine Wut lässt Pieper an der Autobahn GmbH Westfalen aus. Diese sei in vielen Dingen viel zu langsam. Vor allem fordert er ein Ende der Salamitaktik. "Im Februar hieß es 'wir können nicht sagen, wie es weitergeht' – das nimmt man noch hin, aber wir haben jetzt August, wenn es dann immer noch heißt, wir können jetzt nichts sagen, dann stimmt irgendwas nicht."
Die Autobahn GmbH bereitet Sprengung vor
Die Autobahn GmbH Westfalen ist für viele Anwohner Lüdenscheids der große Feind. Sie war es, die im Dezember 2021 entschied, kein Fahrzeug mehr über die marode Brücke fahren zu lassen. Nun führt sie die Bauarbeiten an der alten Brücke aus und bereitet die im Dezember anstehende Sprengung vor.
In Bürgerinitiativen, Facebook-Gruppenchatverläufen und auf der Straße: Überall findet sich der Vorwurf der mangelnden Transparenz des Bundesunternehmens. Wann erfolgt die Sprengung? Wann wird das Kiesbett hierfür vorbereitet? Wann wird die neue Brücke fertiggestellt? Immer wieder Fragen nach dem Zeitplan.
Und inzwischen ist man bei der Autobahn GmbH ganz offensichtlich um Dialog bemüht. So bieten die Projektverantwortlichen Bürgerinnen und Bürgern Besichtigungen der Baustelle an der Rahmede-Brücke an. Um direkt vor Ort mit den teils aufgebrachten Anwohnern in Dialog zu treten.
Der Auftakt erfolgte im August. An einem heißen Sommertag erklärt Klaus Gillmann, Geschäftsbereichsleiter Planung, den Bürgern, wie die Fledermäuse umgesiedelt wurden, zeigt die Probleme des steilen Geländes für die Sprengung auf und spricht über mögliche Szenarien der Explosion. Auch auf Streitereien mit Grundstückseigentümern geht er ein.
Der Mann hat drei Jahrzehnte Brückenbau-Erfahrung; man merkt: Es ist nicht seine erste Sprengung. "Die größten Probleme sind jetzt aus dem Weg geräumt, seien Sie sicher, wir geben unser Bestes", sagt er. Er erklärt, dass es immer zwei Seiten bei solch einem Mammutprojekt gebe: Den einen könne es nicht schnell genug gehen, den anderen komme der Naturschutz zu kurz. Wir könnten froh sein, dass wir in Deutschland eine funktionierende Demokratie haben, sagt er. "Hier geht es dann manchmal eben langsamer voran. Und da ist auch gut so."
Speditionsunternehmer: "Politik lässt unsere Region ausbluten"
Marc Krombach ist Geschäftsführer des Speditionsunternehmens NBTK Ulbrich. Auch seine Lkw sind es, die die Umgehungsroute gezwungenermaßen mitbenutzen. Seine Branche zählt zu den am stärksten betroffenen der Region. Laut Landesverband Transportlogistik und Entsorgung (VVWL) erleiden die verbandsangehörigen Unternehmen durch die Staus und Umleitungen pro Lkw im Schnitt 15 Prozent, in Spitzen über 20 Prozent Effizienzeinbußen, ohne diese ausgleichen zu können.
Das Unternehmen NBTK Ulbrich transportiert etwa 1,65 Millionen Tonnen mineralische Baustoffe pro Jahr. Die Spedition kostet jeder Meter Umweg Zeit und damit Geld. Genauer gesagt "1 bis 1,5 Millionen Euro Mehrkosten pro Jahr", teilt der Unternehmer mit.
Einen großen Teil der Kosten konnte die Spedition in den vergangenen acht Monaten auf die Kunden umlegen. "Aber wie lange noch? Wie lange können sich unsere Kunden noch erlauben, den teuren Schotter einzukaufen? Die Politik lässt eine ganze Region einfach ausbluten", sagt der Geschäftsführer. Krombach gibt den Schwarzen Peter an die Politik und fordert ein großes Unterstützungsprogramm für die gesamte Wirtschaftsregion Südsauerland. Die aktuellen Maßnahmen seien viel zu gering, um die Verluste auszugleichen, heißt es von ihm.
Um jeden Tag geht es auch Dr. Walter Wortberg – allerdings aus gesundheitlicher Sicht. Seit Öffnung der Umgehungsstraße warnt der Arzt als aktives Mitglied der Bürgerinitiative A45 vor den gesundheitlichen Folgen des immensen Verkehrsaufkommens. "Es wurde zwar Anfang Juli eine Messstation eingerichtet – aber wir müssen parallel die Menschen untersuchen, die vor Ort sind. Wir müssen den Feinstaub im Urin, im Blut, im Boden untersuchen. Es ist kein Geheimnis, dass Abgase in den Boden eindringen. Aber auch in Möbel, Stoffe, Gardinen. Das muss alles untersucht werden", so der Mediziner.
"Als Arzt kann ich sagen, der Körper vergisst nicht. Ich habe den Antrag samt Studiendesign persönlich an den Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) übergeben, als er uns am 11. August in Lüdenscheid besuchte."
Nerven liegen bei den Anwohnern blank
Viele Vorschläge stehen mittlerweile im Raum, wie man die Lastwagen aus der Stadt bekommt. Sei es eine Maut für Lkw, eine Einfahrtsregelung per Lichtschranke oder erst mal nur ein Nachtfahrverbot – schnelle Entscheidungen müssen her. Hier gibt es zumindest einen schwachen Hoffnungsschimmer aus Berlin: "Ich weiß, wie sehr die Lüdenscheider im Moment leiden" sagte Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) im August nach seinem Besuch an der Brücke.
Er nehme die Sorgen der Menschen um die Entwicklung in Lüdenscheid sehr ernst, deswegen habe er angeordnet, "sämtliche Anregungen, die die Verkehrssituation weiter verbessern könnten, eingehend zu prüfen und wirksame Vorschläge zügig umzusetzen."
Ob das nur Worthülsen sind, wird man sehen. Erste Maßnahmen zum Schutze der Bürger beginnen zumindest langsam zu greifen: "Unsere Anträge zum Einbau der Lärmschutzfenster wurden alle bewilligt" berichtet das Ehepaar Pieper, "auch für die Fenster, die nicht zur Straße gerichtet sind." Es ist ein erster Schritt für die Lüdenscheider.
- Eigene Recherchen
- Telefonat mit Bürgermeister der Gemeinde Lüdenscheid, Sebastian Wagemeyer (SPD)
- Vor Ort-Gespräche mit Anwohnern der Gemeinde Lüdenscheid
- Telefonat mit Marc Andreas Krombach, Geschäftsführer Spedition NBTK Ulbrich
- Telefonat mit Marcus Hover, stv. Geschäftsführer des Landesverband Transportlogistik und Entsorgung im VVWL
- Telefonat mit Dr. med. Walter Wortberg, Arzt für Allgemein-, Tropen- und Umweltmedizin