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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Grassierende Kinderarmut Besorgte Mutter: "Geld zum Sparen bleibt nicht, nicht mal 20 Euro"
In Bremen leben 42 Prozent der unter 18-Jährigen in armutsgefährdeten Haushalten – so viele wie nirgendwo sonst in Deutschland. Eine alleinerziehende Mutter erzählt, was wenig Geld für das Heranwachsen ihres Kindes bedeutet und wie die Folgen des Ukraine-Kriegs die Situation verschärfen.
Die Osterwiese zählt neben dem Freimarkt zu Bremens größten Volksfesten. Autoscooter, Zuckerwatte, Karussells, Pommes und Eis – für die meisten Kinder ist der Besuch ein Highlight, das jedes Jahr fester Bestandteil ihrer Osterferien ist. Der siebenjährige Ben* muss dieses Mal jedoch darauf verzichten, zu wenig Geld bleiben ihm und seiner Mutter Ira Petrow dafür. In den zweieinhalb Wochen, die das Fest andauert, meidet Petrow deshalb den Platz hinterm Hauptbahnhof. "Damit er nicht noch trauriger wird und sieht, was er verpasst", sagt sie.
Das schlechte Gewissen, ihrem Sohn diesen Wunsch nicht erfüllen zu können, ist groß. Neu ist das Gefühl für die 46-jährige Alleinerziehende allerdings nicht – es sei ein ständiger Begleiter, sagt sie. Ihr Sohn und sie leben von Hartz IV, jeder Euro ist in der Regel verplant. Das Thema Geld belaste die kleine Familie permanent: "Es ist in allen Lebenslagen präsent." Beim Einkaufen, bei der Auswahl der Hobbys oder beim Einrichten ihrer Wohnung, Petrow muss sich jede Ausgabe zweimal überlegen, steckt selbst immer wieder zurück, um ihrem Sohn wenigstens gelegentlich eine Freude bereiten zu können.
Armut in Bremen: Ein Thema der Scham
Ira Petrow und Ben heißen eigentlich anders. Doch die 46-Jährige will nicht, dass jemand aus ihrem Bekanntenkreis den Artikel liest und ihr Sohn direkt damit konfrontiert wird, wie wenig Geld sie im Vergleich zu anderen Familien zur Verfügung haben. Das Thema Armut sei für sie mit Scham behaftet, ein Stempel, den man nur schwer wieder loswerde und den sie so gut es geht versuche, von ihrem Kind fernzuhalten.
Dennoch gehört Ben offiziell zu den Kindern, die im Land Bremen von Armut bedroht sind. 42 Prozent der unter 18-Jährigen leben im Zwei-Städte-Staat in armutsgefährdeten Haushalten – so viele wie nirgendwo sonst in Deutschland. In Niedersachsen sind es 23 Prozent, bundesweit liegt der Wert bei 20,2 Prozent. Das geht aus der jüngsten Antwort des Bundessozialministeriums auf eine Anfrage der Linken im Bundestag hervor.
Als armutsgefährdet gilt nach der offiziellen Definition, wer mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens – dem so genannten Median – der Gesamtbevölkerung auskommen muss. Die Bundesregierung will einen Sofortzuschlag für Betroffene auf den Weg bringen. Etwa 2,7 Millionen Kinder und Jugendliche sollen vom 1. Juli an 20 Euro mehr im Monat bekommen.
Elternarmut bedeutet Kinderarmut
Die Gründe für die hohe Quote in Bremen sind vielfältig. Dort kommen Faktoren zusammen, die sich auch in anderen Großstädten beobachten lassen und die größtenteils auf die Lebensumstände der Eltern zurückzuführen sind. Elternarmut bedeutet Kinderarmut. "Wenn Eltern arm sind, weil sie zum Beispiel auf Sozialleistungen angewiesen sind, wenn ihre Arbeitsmarktchancen schlecht, ihre Löhne sehr gering sind oder sie aufgrund von gesundheitlichen, sprachlichen oder anderen Problemen nicht arbeiten können, bedeutet das automatisch auch Armut für ihre Kinder", fasst Kathrin Moosdorf, Geschäftsführerin des Kinderschutzbundes Bremen, zusammen.
In Bremen landen nach Angaben der Sozialbehörde besonders viele Schutzsuchende, die einen langen Weg in den Arbeitsmarkt haben. Gemeinsam mit Berlin ist Bremen zudem an der Spitze hinsichtlich des Anteils an Alleinerziehenden – auch das sei eines der zentralen Armutsrisiken für Kinder. Die Mutter arbeitet nicht oder nur in Teilzeit und bringt entsprechend weniger Geld nach Hause.
So ist das auch bei Ira Petrow. Bevor sie vor einigen Jahren mit dem Vater ihres Kindes nach Bremen zog, arbeitete sie knapp 20 Jahre als zahntechnische Hilfskraft in Süddeutschland. Nach der Schwangerschaft und Trennung von ihrem Partner fand sie keine passende Stelle mehr. Ein spezielles Programm für alleinerziehende Mütter einer Bremer Firma scheiterte an der Coronapandemie, derzeit nimmt die 46-Jährige an einer Umschulung für einen Sicherheitsdienst teil.
"Es ist ein Teufelskreis"
Sie habe Angst, dass sie überhaupt keinen Job mehr finde. "Ich bin eine relativ alte Mutter, mein Kind wird mich noch eine ganze Weile brauchen, weshalb für mich kein Schichtdienst und nur Teilzeit infrage kommt."
Und sie stellt sich die Frage, was sich verändern würde, sollte sie doch wieder eine Beschäftigung finden. "Ich will arbeiten und meinem Sohn ein Vorbild sein. Dennoch habe ich Angst, dass ich nur eine schlecht bezahlte Stelle finde, bei der ich am Ende ähnlich viel Geld wie jetzt zur Verfügung habe, mir aber die Zeit mit meinem Kind fehlt und ich gewisse Vergünstigungen für Leistungsbezieher nicht mehr wahrnehmen kann", sagt sie. "Es ist ein Teufelskreis."
Ein Teufelskreis, der nicht selten auf die Kinder von Leistungsempfängern übertragen wird und der auch der Stadt Sorge bereitet, wie die Sozialbehörde bestätigt.
Folgen des Ukraine-Kriegs treffen Kinder aus armen Familien besonders hart
Die Auswirkungen des Ukraine-Krieges belasten die kleine Familie derzeit zusätzlich. "Es ist vieles teurer geworden, das merke ich bei jedem Einkauf", sagt Petrow. Auch bei der Tafel, die die Frau aus Bremen-Nord einmal wöchentlich aufsucht, seien die Auswirkungen bereits spürbar. "Die Auswahl ist geringer, da mehr Menschen dorthin kommen." Jüngst schlugen die Tafeln in Bremen und Niedersachsen deshalb Alarm, weil sie an ihre Grenzen stießen. Einerseits fehle es an Lebensmitteln und freiwilligen Helfern, andererseits sei die Zahl der Bedürftigen im Moment immens, sagte etwa der Vorsitzende des Tafel-Landesverbandes Niedersachsen/Bremen, Uwe Lampe, Ende April.
Mit den höheren Kosten im Alltag haben Kinder aus ärmeren Haushalten noch weniger Möglichkeiten auf Teilhabe, mahnt auch der Bremer Kinderschutzbund. "Wir sehen sehr viele Kinder, die deshalb zusätzlich belastet sind", sagt Geschäftsführerin Kathrin Moosdorf.
Sohn soll nichts von Tafelbesuchen mitbekommen
Dass die Lebensmittel zu Hause im Kühlschrank häufig von der Tafel stammen, weiß Ben nicht. "Er geht davon aus, dass das ein normales Geschäft ist, bei dem wir nur etwas länger als im regulären Supermarkt warten müssen", sagt Petrow. "Ich will unter allen Umständen vermeiden, dass er das in der Schule rumposaunt. Es ist mir peinlich." Petrow betont zwischendurch immer wieder, wie froh sie über Angebote wie die Tafel sei. "Ich möchte nicht missverstanden werden. Dennoch wünschte ich, ich müsste es nicht nutzen."
Doch die Transferleistungen vom Staat reichen eben meist nicht aus, sagt sie. Das merke sie vor allem am Monatsende. "Geld zum Sparen bleibt nicht, nicht mal 20 Euro." Wenn sie gar nicht zurechtkomme, bitte sie ihre Mutter in Süddeutschland um Hilfe. "Das ist unangenehm", so die 46-Jährige. Zum Vater ihres Kindes gebe es nur unregelmäßig Kontakt, anstelle einer regulären Unterhaltszahlung erhalte sie monatlich einen sogenannten Unterhaltsvorschuss als Ausgleich vom Staat.
Wohnung als Rückzugsort
Trotz ihrer finanziellen Lage haben sich Petrow und ihr Sohn eine kleine Oase in ihrer Drei-Zimmer-Wohnung geschaffen. Oft sitzen sie in der gemütlichen Küche zusammen oder Petrow beobachtet ihren Sohn vom Balkon aus beim Spielen mit den Nachbarskindern. Der Siebenjährige hat eines der beiden größeren Zimmer bekommen, seine Mutter begnügt sich mit der kleinen Kammer neben der Eingangstür, in die gerade so ein Bett und ein Kleiderschrank passen. Ben hat sein Zimmer extra aufgeräumt, auf den ersten Blick mangelt es ihm nicht an Spielsachen. "Er kann sich nur schwer von Sachen trennen", scherzt seine Mutter, und Ben präsentiert zum Beweis sämtliche Kuscheltiere der vergangenen Jahre.
Vieles kaufe Petrow gebraucht übers Internet oder auf Flohmärkten. Kleidung und Spielsachen bekomme sie auch immer wieder von der Familie ihres Bruders. "Ben hat viele Sachen, aber eben wenig Neues", sagt sie. Noch sei das für ihn in Ordnung, in seiner Klasse gehe es vielen Familien ähnlich, doch die Rufe nach Markenkleidung würden lauter. Einige Möbelstücke in ihrer Wohnung zahlt Petrow auch vier Jahre nach dem Umzug noch ab, sie hat vieles auf kleine Raten aufgeteilt.
Soziale Spaltung in Bremen nimmt zu
Auf den 64 Quadratmetern wollen Mutter und Sohn zur Ruhe kommen, hier soll es ordentlich sein, anders als draußen auf der Straße, wo die Müllcontainer oft überquellen und Überflüssiges einfach am Straßenrand entsorgt wird. Die beiden wohnen in Aumund, einem Ortsteil von Vegesack im Norden der Stadt. In dem Quartier der kleinen Familie stehen zahlreiche Wohnblöcke, Schule und Spielplatz liegen direkt vor der Haustür, Bens Freunde wohnen nur wenige Häuser entfernt. "Die Nachbarschaft ist gemischt. Hier wohnen Normalos, aber eben auch Menschen mit Problemen, es gibt einige Suchtkranke", sagt Petrow.
Die soziale Spaltung zwischen Bremens Stadtteilen nimmt zu. Nach Angaben des Armutsberichts leben 60,3 Prozent der Kinder und Jugendlichen unter 15 Jahren in Grohn von Hartz-IV-Regelleistungen. In Borgfeld sind es dagegen nur 1,1 Prozent.
Hoffnung in die Kindergrundsicherung
Die Stadt versucht, mit vielen kleinteiligen Maßnahmen dagegen anzugehen. So sei jüngst das Programm für besonders förderungsbedürftige Stadtteile aufgestockt worden, dort gibt es zahlreiche Anlaufpunkte, die Unterstützung bieten sollen. "Insgesamt aber darf man nicht vergessen, dass Armutsbekämpfung eine Querschnittsaufgabe des gesamten Senats bleibt, in der auch andere Ressorts wie Bildung oder Wirtschaft eine zentrale Rolle spielen", sagt Bernd Schneider, Sprecher der Sozialbehörde.
Hoffnung setzt man in Bremen auch auf die in den Koalitionsvertrag aufgenommene Kindergrundsicherung, einem für alle Kinder und Jugendlichen gleich hohen Garantiebetrag – unabhängig vom Einkommen der Erziehungsberechtigten.
Opposition: "Alleinerziehende werden zu oft in Maßnahmen geparkt"
Der Opposition reichen die Maßnahmen der rot-rot-grünen Landesregierung nicht aus. "Die Armut grassiert hier seit Jahren, weil die Bremer Regierung immer mehr Geld in alimentierende statt in aktivierende Maßnahmen steckt", kritisiert die sozialpolitische Sprecherin der Bremer CDU-Fraktion, Sigrid Grönert. "Vor allem Alleinerziehende werden zu oft in Maßnahmen geparkt, statt Ausbildungen oder Abschlüsse – auch in Teilzeit – mit verlässlicher Kinderbetreuung nachholen zu können."
"Wir brauchen einen ehrlichen Schnitt: Viel Geld für wirklich gute, streng überprüfte und familienfreundliche Weiterbildung und Berufsqualifizierung – und Schluss mit der bloßen Alimentierung in immer neuen Armutskreisläufen. Allein mit mehr Geld für Familien, wodurch Armut besser gestaltet werden könnte, ist noch keinem Kind nachhaltig geholfen", so Grönert weiter.
Auch wenn Ben schlechtere Startchancen als viele Gleichaltrige hat, wünscht sich Ira Petrow für ihren Sohn, dass er es einmal besser hat als sie jetzt. "Ich hoffe, dass er die Schule gut abschließt und einen Beruf findet, der ihm Spaß macht. Er soll sich seine Träume erfüllen können. Und ich versuche alles, dass das auch gelingt", sagt sie.
- Besuch und Gespräch bei alleinerziehender Mutter und ihrem Kind in Bremen-Aumund
- Anfrage an die Geschäftsführerin des Kinderschutzbundes Bremen, Kathrin Moosdorf
- Anfrage an Bernd Schneider, Sprecher der Sozialbehörde Bremen
- Senatorin für Soziales, Jugend, Integration und Sport: Mitteilung zum Armutsbericht
- Anfrage an die sozialpolitische Sprecherin der Bremer CDU-Fraktion, Sigrid Grönert
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa