Gesellschaftliche Herausforderungen "Der Staat allein kann das nicht schaffen"
„Es stimmt etwas nicht“, das Gefühl hätten viele. Sagt Wolfgang Picken. Der Bonner Pfarrer sieht im Engagement der Zivilgesellschaft eine geeignete Antwort auf die Probleme in Deutschland.
Chemnitz und Köthen stehen derzeit sinnbildlich für die Spaltung der Gesellschaft. Es geht längst nicht mehr nur um die Flüchtlingskrise. Es geht um das Gefühl der Benachteiligung, um Existenzängste, um das Empfinden, mit seinen Problemen allein gelassen zu werden. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagte bei seinem Amtsantritt im Frühjahr 2017, es gebe Haarrisse in der Gesellschaft. Zuletzt korrigierte er in einer Ansprache: „Aus den Haarrissen sind Gräben geworden“.
Die Herausforderungen sind enorm. Menschen aus fernen Ländern mit Ängsten, Wünschen und oft auch Traumata müssen in eine Kultur, in ein System integriert werden, das ihnen zum einen fremd ist und das zum anderen selbst mit diversen Problemen zu kämpfen hat. Es fehlt an Fachkräften, die Bevölkerung wird immer älter, die Einkommensschere geht weiter auseinander, Ängste wachsen – und damit Unzufriedenheit.
Eine große Koalition zwischen Staat und Bevölkerung
Probleme, die auf politischer Ebene höchste Relevanz haben müssen. „Aber der Staat allein kann nicht überall einspringen“, sagt Wolfgang Picken, Pfarrer in Bad Godesberg. Seine These: „Es braucht ein neues Wir.“ Ein was? „Eine Zivilgesellschaft, die Probleme solidarisch angeht.“ Und zwar nicht immer gleich im Großen, sondern vor allem im Kleinen. „Vor der Tür, in der Region.“ Er nennt das eine große Koalition. Spricht dabei nicht von der von Querelen geplagten Bundesregierung, sondern von einer Vereinigung vom Staat und seinen Bürgern, die Verantwortung füreinander übernehmen: In der Kinderbetreuung, bei der Pflege, im gesamten Miteinander.
Picken spricht dabei nicht nur aus einer geistlichen Perspektive. Neben Theologie studierte er auch Politikwissenschaften, hat als Politologe und Journalist gearbeitet. Er kennt die Probleme der Menschen aus verschiedenen Blickwinkeln. „Ich stand vor der Entscheidung, ob ich in die Politik gehe und Probleme von oben behandle oder, ob ich zu den Menschen gehe und gemeinsam vor Ort an Lösungen arbeite.“
Ohne Solidarität bleiben viele auf der Strecke
Er schlug letzteren Weg ein und führte im Bonner Stadtteil Bad Godesberg vor, was möglich ist. Er gründete eine Bürgerstiftung, die Gelder und Ressourcen für wichtige Aufgaben wie etwa Kinderbetreuung oder die Begleitung von Sterbenden generiert. „Aber Geld ist nur die eine Seite, Talente und Begabungen die andere. Jeder kann einen Beitrag leisten.“ 15 Jahre ist Picken nun in Bad Godesberg tätig. In dieser Zeit hat er so viele Menschen mobilisiert füreinander einzustehen, dass seine Arbeit immer wieder als bundesweites Vorbild gehandelt wird.
„Viele Menschen bleiben bei fehlender Solidarität auf der Strecke – vor allem die schwächsten: Kinder, Arme, Kranke.“ Es brauche ein Umdenken. Den Menschen müsse wieder bewusster werden, dass jeder von einer starken Gemeinschaft profitiert. Viele würden sich schon engagieren, noch mehr wären es, glaubt Picken, würde ihr Engagement besser gefördert. „Kurze und schnelle Entscheidungen auf administrativer Ebene“, fordert er deshalb von den Kommunen, Ländern und vom Bund.
Seine Erfahrungen und Gedanken zum Zustand der Gesellschaft und dazu, wie Probleme gemeinsam gelöst werden können, hat Wolfgang Picken in einem Buch ausführlich zusammengefasst: „Wir – Die Zivilgesellschaft von morgen“.
- eigene Recherche