Klimakatastrophe Emissionsstopp brächte zunächst schnellere Erwärmung
Seattle (dpa) - Selbst wenn alle menschengemachten Emissionen, die das Klima beeinflussen, sofort gestoppt würden, könnte die Erderwärmung mit einer Wahrscheinlichkeit von rund 42 Prozent 1,5 Grad erreichen. Das geht aus einer neuenSimulationsstudiehervor.
Die Forschenden fanden auch, dass ein sofortiger Emissionsstopp zunächst wohl sogar mit einer schnelleren Erwärmung einhergehen würde, weil der Kühlungseffekt durch Aerosole aus der Verbrennung von Kohle, Erdöl und Erdgas ausfiele; erst nach einigen Jahren würde die globale Temperatur dann sinken. Die Untersuchung einer Gruppe um Michelle Dvorak von der University of Washington in Seattle ist in der Fachzeitschrift "Nature Climate Change" erschienen.
Die Forscherinnen und Forscher betonen, zwei Aspekte des Klimawandels getrennt betrachten zu wollen:
• die Erwärmung durch den bisherigen Ausstoß von Treibhausgasen und Partikeln, der nicht mehr zu ändern ist
• die Erwärmung durch zukünftige Emissionen.
Deshalb nahmen Dvorak und Kollegen für ihre Simulationen an, dass alle menschengemachten klimarelevanten Emissionen mit Beginn des Jahres 2021 schlagartig aufgehört hätten. Auf diese Weise errechneten sie, dass die Wahrscheinlichkeit der Überschreitung der 1,5-Grad-Grenze auf 66 Prozent steigt, wenn die Reduzierung der Emissionen auf null erst 2029 geschehen würde.
Kühlungseffekt fällt weg
Mit Hilfe des Computermodells "FaIR", das von Experten für die Strahlungsbilanz der Erde entwickelt wurde, erstellten die Wissenschaftler Zeitreihen von 39 Gasen und kurzlebigen Klimawandeltreibern. Daraus ergab sich, dass ein sofortiger Emissionsstopp zu einer schnellen Erderwärmung auf nahezu 1,5 Grad führen würde, denn: "Troposphärische Aerosole, die durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe und die Verbrennung von Biomasse entstehen, haben eine atmosphärische Lebensdauer von Tagen bis Wochen und üben derzeit einen starken Netto-Kühleffekt auf das Klima aus (ein negativer Strahlungsantrieb)." Mit Wegfall dieses Kühlungseffekts käme es zu einer schnellen Erwärmung, bevor die Verringerung der Treibhausgase die Temperatur senken würde.
Bisher hatten sich Klimaforscher auf den Effekt konzentriert, der durch den Wegfall des Treibhausgases Kohlendioxid (CO2) entstehen würde. Weil CO2 nur sehr langsam in der Atmosphäre abgebaut wird, würde die CO2-Konzentration über lange Zeit hoch bleiben und die Temperatur sich kaum ändern. Methan hingegen wird in 10 bis 20 Jahren abgebaut und auch andere Treibhausgase sind nicht so langlebig wie CO2. Das Stoppen der Emissionen dieser Substanzen hätte also eine allmähliche Senkung der weltweiten Durchschnittstemperatur zur Folge.
Wie im Sechsten Weltklimabericht (IPCC) der Vereinten Nationen ist der Vergleichszeitraum, auf den sich die Temperaturänderungen beziehen, der Zeitraum 1850 bis 1900. Das Team um Dvorak errechnete, dass die Menschen von 1850 bis 2019 die Menge von 2290 Milliarden Tonnen CO2 in die Atmosphäre entlassen haben. Nach weiteren 1080 Milliarden Tonnen ab Januar 2021 werde die 1,5-Grad-Grenze erreicht, nach 1980 Milliarden Tonnen die Zwei-Grad-Grenze. Verstärkungseffekte wie der vermehrte Methanausstoß aus dem tauenden Permafrostboden sind im Klimamodell nicht berücksichtigt, so dass die Erwärmung auch höher ausfallen kann.
Lob für die Studie
Als "sehr gut gemacht", bezeichnet Jochem Marotzke, Direktor am Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg, die Studie. Er war koordinierender Leitautor beim Sechsten Weltklimabericht und kennt daher die Hintergründe sehr gut. Simulationen wie in dieser Studie wären vor einigen Jahren noch mit Argwohn betrachtet worden, sagt Marotzke. "Heute wissen wir, dass diese Simulationen mit recht einfachen Modellen sehr gut für die Vorhersage der Temperaturentwicklung geeignet sind."
Auch für Elmar Kriegler vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung ist die Studie von Interesse, wenngleich der Sechste Weltklimabericht die in der Studie aufgezeigten Dynamiken bereits berücksichtige. Kriegler war Mitautor mehrerer Berichte des Weltklimarates. Die Studie zeige, dass es sehr schwer sein wird, den Spitzenwert der globalen Erderwärmung unter 1,5 Grad zu halten. Selbst wenn das langfristige Ziel, die 1,5-Grad-Schwelle nicht zu überschreiten, erreicht werden könne, sei mit einem "Überschießen" dieser Schwelle für einige Jahre zu rechnen. Es seien aber mehr politische Maßnahmen als bisher erforderlich: "Die Anstrengungen zur Eindämmung des Klimawandels werden ein Ringen um jedes Zehntelgrad sein"