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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Immer mehr Impfkonflikte Warum die ersten Ärzte vom Aufgeben sprechen
Arztpraxen melden sich von der Impfkampagne gegen Covid-19 wieder ab – vor diesem Szenario warnen mehrere Verbände. Sie klagen über falsche Versprechen der Politik und aggressive Patienten. Doch Besserung naht.
Stellt man sich die deutsche Impfkampagne wie einen Motor vor, dann ist er Ende des vergangenen Jahres stotternd und mit wenig Treibstoff gestartet. Erst einmal warmgelaufen, zündete er plötzlich den Turbo. Doch jetzt, während Millionen Menschen im Land ihrem Impftermin entgegenfiebern und auf mehr Freiheiten hoffen, droht ein entscheidendes Bauteil zu überhitzen: die Hausärzte.
Monatelang wollten sie einen größeren Anteil an der Impfkampagne übernehmen. Nun aber fühlen sich viele von ihnen von politischen Entscheidungen überrannt und mit dem größten Konflikt des Corona-Jahres 2021 alleingelassen: der Impfstoffverteilung. "Das Problem mit dem Impfstoffmangel wird auf dem Rücken der Hausärzte ausgetragen", sagt Wolfgang Kreischer, Vorsitzender des Hausärzteverbands Berlin und Brandenburg, zu t-online.
"Wir müssen dieses Szenario befürchten"
Vereinzelt äußern Ärzteverbände nun sogar die besorgniserregende Befürchtung, dass sich vermehrt Praxen von der Impfkampagne zurückziehen werden – wegen Überlastung. Wie konnte es innerhalb kurzer Zeit so weit kommen? Ärztevertreter verweisen auf ein explosives Gemisch aus politisch geweckter Hoffnung, einem Mangel an Impfstoff und enttäuschten Patienten.
Angestoßen hatte die Debatte am Dienstag Oliver Funken, Vorsitzender des Hausärzteverbands Nordrhein. Er sagte der "Rheinischen Post": "Wir haben inzwischen eine gefährliche Entwicklung: Zahlreiche Hausarztpraxen melden sich vom Impfsystem wieder ab." Ein Einzelfall? Wolfgang Kreischer berichtet, er habe in seinem Verband Berlin und Brandenburg davon gerüchteweise gehört. Andreas Daniel von der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe erklärt auf Nachfrage von t-online: "Wir können das aktuell nicht mit Zahlen belegen. Angesichts der Berichte, die uns täglich aus den Arztpraxen erreichen, müssen wir dieses Szenario aber befürchten."
Auseinandersetzungen mit Patienten
Es gebe immer mehr Auseinandersetzungen zwischen Ärzten und Patienten, berichtet Daniel weiter. Denn aus Mangel an Impfstoff könne weiterhin nicht jedem zeitnah ein Angebot gemacht werden. "Zugleich werden die Menschen durch Ankündigungen der Politik noch ermuntert, obwohl der Andrang auf die Praxen ohnehin schon sehr groß ist."
Zuletzt preschte die Politik mit der Aufhebung der Impfpriorisierung vor. In Berlin und Baden-Württemberg gilt sie seit Montag in Arztpraxen nicht mehr, Bayern folgt in dieser, Sachsen nächste Woche. Auch Thüringen erwägt den Schritt. Am 7. Juni, so kündigte es Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) an, solle die Reihenfolge bundesweit fallen.
Für die Hausärzte hat das eigentlich einen positiven Effekt: Sie müssen sich mit weniger Bürokratie beschäftigen und können unkompliziert impfen. Doch sie fürchten auch die Gefahren. Roland Stahl von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung betont: "Ankündigungen, Priorisierungen würden wegfallen, führen leider dazu, dass viele Menschen denken, jetzt sofort könnten sie sich impfen lassen. Dem ist natürlich mitnichten so. Frust, Zorn und Ärger trifft dann die Ärztinnen und Ärzte und vor allem ihre Teams der Medizinischen Fachangestellten in den Praxen." Deshalb appelliert er: "Wir rufen daher dringend dazu auf, nicht die Praxen zu stürmen."
"In ein paar Wochen werden wir mit Impfskeptikern diskutieren"
Wenn Wolfgang Kreischer vom Berliner und Brandenburger Verband also davon spricht, der Konflikt um die Impfstoffverteilung werde auf dem Rücken der Hausärzte ausgetragen, dann meint er eben dieses Dilemma. Täglich wächst die Hoffnung auf einen Impftermin. Die Liefermenge an Impfdosen soll aber erst im Juni stark ansteigen. Arztpraxen sollen dann 5 statt 2,5 Millionen Dosen pro Woche bekommen.
Erst – oder schon? Das ist der Punkt, auf den die Optimisten unter den Hausärzten verweisen. Nun stünden zwar noch zwei oder drei spannungsgeladene Wochen bevor, danach könne aber voraussichtlich viel mehr geimpft werden. Dr. Frank-Dieter Braun, Vorsitzender der Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg, meint: "In ein paar Wochen werden wir möglicherweise schon mit Impfskeptikern diskutieren, um überhaupt noch genügend Interessierte für eine Impfung zu finden."
Die Warnungen der Kollegen seien natürlich berechtigt und die Situation in vielen Arztpraxen, die derzeit eine doppelte Last aus Impfkampagne und normaler medizinischer Versorgung tragen, enorm. "Auch böse Bemerkungen hört man ab und zu, zum Beispiel, wenn man keinen Termin wegen Impfstoffmangel anbieten kann", schildert Braun. Dass Ärzte aber deshalb in größerem Maße das Impfen einstellen wollen, beobachtet er in seinem Bundesland nicht.
Zahlen aus mehreren Verbänden geben ihm recht: Wie die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände auf t-online-Anfrage mitteilt, sei die Zahl der Arztpraxen, die Covid-19-Impfstoff bestellen, seit Ostern kontinuierlich gestiegen. Und auch die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein, aus deren Region die erste Warnung kam, meldet eine zuletzt gestiegene Zahl an impfenden Arztpraxen, genau wie die Vereinigungen aus Baden-Württemberg und Bayern. Das heißt nicht, dass nicht einzelne aufgegeben haben. Ein besorgniserregender Trend ist jedoch nicht zu erkennen.
Unstrittig ist jedoch, dass sich Hausärzte und ihre Angestellten im ganzen Land in einer Extremsituation befinden. Belege dafür, dass sie deshalb in größerem Maßstab das Impfen gegen Covid-19 einstellen, gibt es derzeit jedoch nicht. Jeder Einzelne kann mit seinem Verhalten dazu beitragen, dass es so bleibt. So sind die Hilferufe einiger Hausärzte vergleichbar mit einer Warnleuchte im Auto – bevor der Motor der Impfkampagne wirklich überhitzt.
- eigene Recherche