Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Putins Impfstoff Warum bloß will in Russland niemand Sputnik V?
Nur Impfungen können die Corona-Pandemie stoppen. Weil die Angelegenheit hochpolitisch ist, will Russland mit Sputnik V weltweit groß auftrumpfen. Doch daheim ist das Produkt nicht sehr beliebt.
Beim heutigen Stand der Waffenentwicklung ist ein großer Krieg ausgeschlossen, unser kleiner Erdball ist kein passendes Spielfeld für so viele Kanonen. Außerdem würde die Besetzung eines fremden Territoriums kaum Vorteile und jede Menge zusätzliche Kosten mit sich bringen.
Deswegen werden zur Lösung der politischen Konflikte öfter "Humanitäre Waffen" benutzt. Das Ziel ist, den Gegner zu schwächen, ihn bloßzustellen, um dann vielleicht später als einflussreicher Freund und Wohltäter dazustehen und seine Hilfe anzubieten, natürlich nicht umsonst.
Impfreisen nach Russland
Die Embargos, Hackerangriffe, Sanktionen und das Lenken der Flüchtlingsströme haben sich in der letzten Zeit als moderne "Humanitäre Waffen" erwiesen.
Nun ist der große Krieg der Impfstoffe im Anmarsch. In gewisser Weise ist es sogar befreiend, dass nicht mehr mit Waffen, sondern mit Spritzen gekämpft wird. Niemand muss mehr auf dem Schlachtfeld sterben, im Gegenteil, die Gesundheit der Völker, ihre Immunität wird durch diese modernen Kriege gestärkt.
Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit rund 30 Jahren in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Büchern gehört "Russendisko".
Die amerikanische Regierung hat vier große Onlineplattformen enttarnt, die, so der Vorwurf, von der russischen Seite manipuliert werden, um in den sozialen Netzwerken Misstrauen und Angst vor den westlichen Impfstoffen zu verbreiten und gleichzeitig den in Russland produzierten Impfstoff Sputnik V in den Himmel zu loben. Es werden bereits Sputnik-Trips, also Vakzinierungsreisen nach Russland angeboten. Auf den Werbeanzeigen sieht man unseren Erdball, der wie ein Babypo aussieht und eine fette Spritze in der Pobacke stecken hat, ziemlich genau da, wo sich der europäische Raum befindet, würde ich sagen.
"Wir impfen die Welt" lautet deren Slogan. Meine Schwiegermutter hat die Werbung für Sputnik-Trips im Internet gefunden: Eine Pilgerreise nach Moskau mit Übernachtung in einem teuren Hotel, einem Rundgang auf dem Roten Platz und einer Vakzinierung, alles inklusive. Anschließend ist ein Besuch im Bolschoi-Theater möglich, gegen Aufpreis, versteht sich.
Allerdings galt dieses Angebot für reiche ausländische Touristen, Amerikaner und Europäer, nicht für russische Rentnerinnen vom Land. Für die eigene Bevölkerung ist der Impfstoff nur in geringen Mengen vorhanden. In der superreichen Stadt Moskau ist es kein Problem, eine Dose Sputnik V zu bekommen. Außerhalb der Hauptstadt sieht es nicht so rosig aus.
Fläschchen sind Mangelware
Meine Schwiegermutter wohnt im Nordkaukasus auf einem Gelände der ehemaligen Kolchose "Aufstieg des Kommunismus". Am Frauentag haben wir telefoniert, ich wollte wissen, wie die pandemische Situation vor Ort ist. Es seien Gott sei Dank alle gesund, die nicht vorher gestorben seien, meinte sie. Und selbst diejenigen, die letztes Jahr gestorben sind, hatten kein Corona, zumindest haben sie es nicht bemerkt. Die Schwiegermutter achtet sehr auf ihre Gesundheit, sie besucht regelmäßig das Krankenhaus in der Kreisstadt.
Ja, die Impfung Sputnik V sei vorhanden, sagte ihr die Ärztin, sie würde jedoch bloß in großen Fläschchen geliefert und die Haltbarkeit sei begrenzt. "Bilden Sie eine Gruppe, mindestens 20 Personen mit impfbereiten Einheimischen, dann mache ich ein Fläschchen auf", klärte sie meine Schwiegermutter auf. Von diesem Problem hatte ich schon früher aus anderen Regionen gehört. Der Impfstoff wurde nach dem Ukas des Präsidenten in großen Mengen hergestellt, die Ampullen dafür fehlen noch immer. Er wird deswegen mancherorts in großen Flaschen geliefert, deswegen kann nur in Gruppen geimpft werden.
20 Impfwillige im "Aufstieg des Kommunismus" zu finden, sei aber ein Ding der Unmöglichkeit, erklärte mir die Schwiegermutter. Dort leben ungefähr 200 Menschen, gefühlt sind es 5, und alle Bewohner des "Aufstiegs" sind äußerst misstrauisch dem Staat gegenüber. Sie sind Impfverweigerer von ganzem Herzen. Im Fernsehen wird nicht umsonst ständig über die Schlechtigkeit der westlichen Impfstoffe berichtet, angeblich können die Menschen nach der Impfung mit westlichen Stoffen ihre Gesichtsmuskulatur nicht mehr bewegen, sie können nicht mehr weinen und lachen.
Warum tragen Polizisten noch Masken?
Andere verlieren gleich nach der Vakzinierung kurz das Bewusstsein und wenn sie wieder zu sich kommen, sind sie nicht mehr sie selbst. Der heimische Impfstoff wird in den Himmel gelobt. Doch Hand aufs Herz: Wenn schon die westlichen Stoffe so kläglich versagen, warum soll der unsere besser sein? So denken die Aufstiegsbewohner. Und der russische Präsident, der viel und laut über den großen Sieg der russischen Medizin erzählt, hat sich selbst nicht impfen lassen: Er sehe "keine Notwendigkeit".
"Na, dann sehen wir sie auch nicht, such dir die Blöden anderswo", sagten die "Aufstiegsbewohner" unisono. Auch die Bilder von leergeräumten Moskauer Straßen verstören. Wo sind denn all die glücklich geimpften Moskauer, warum gehen sie nicht spazieren? Was ist mit ihnen passiert, dass sie sich nicht mehr auf die Straße trauen? Und warum tragen die Polizisten noch immer Masken, wenn sie schon das Virus besiegt haben?
Meine Schwiegermutter ist eigentlich auch eine Impfstoffverweigerin, sie möchte sich nichts vom Staat spritzen lassen. Aber sie will unbedingt den Impfpass bekommen, damit sie später, wenn sich die ganze Pandemie beruhigt hat, wieder nach Berlin reisen kann, ihre Tochter und ihre Enkelkinder besuchen.
In der Kreisstadt hingen Zettel in den Unterführungen mit dem Angebot, einen echten Impfausweis zu besorgen, ohne sich dabei irgendetwas einspritzen zu müssen. Diese Angebote machten meine Schwiegermutter ebenfalls misstrauisch, es war unklar, ob die echten Ausweise aus der Unterführung für die Europäer echt genug sein würden.
Gab es den Impfstoff gratis?
Der Kampf der Impfstoffe ist in vollem Gange. Die Lieferung nach Afrika ist bereits unterwegs, Kasachstan und Argentinien haben sich ebenfalls für das russische Zeug entschieden. Die Zulassung von Sputnik V in Europa durch die Arzneimittel-Agentur Ema wird beschleunigt, unabhängig davon hat sich schon halb Ungarn damit geimpft. Italien möchte mit der Produktion von Sputnik V beginnen, die Tschechen überlegen sich, auch bei den Russen zu kaufen und die Slowakei hat es bereits gemacht.
Die Russische Föderation hatte angeblich nicht einmal Geld dafür verlangt. Auf die Frage eines ukrainischen Journalisten, was die Slowakei dem russischen Partner als Gegenleistung für ihr Vakzin angeboten habe, sagte der slowakische Premierminister, er habe Putin dafür die Südkarpaten versprochen.
Die ukrainische Öffentlichkeit war empört. Später stellte sich heraus, der slowakische Ministerpräsident habe sich einen Witz erlaubt, obwohl es für Diplomaten verboten ist, auf dem internationalen Parkett Witze zu machen. Der Sinn für Humor ist bekannterweise in jeder Region verschieden.
Die amerikanische Regierung zeigte sich über die Verbreitung des russischen Impfstoffes über den Globus besorgt, das Europäische Parlament hält sich neutral. Eins steht fest: Wer heute die Welt impft, wird sie morgen melken.
Wer wird wohin reisen dürfen?
Jeder Tag bringt neue Schlagzeilen über Sputnik V. Eine lautete, die Russische Föderation biete in ihren Botschaften in Amerika und Europa kostenlose Impfungen für alle russische Bürgerinnen und Bürger, die im Ausland leben. Dabei ist der Impfstoff im Westen noch immer nicht zugelassen. Eine Impfung auf dem Territorium der Botschaft kann die westliche Justiz jedoch nicht verhindern, denn die Botschaft ist exterritorial.
Die europäische Zulassung ist nur eine Frage der Zeit, die Arzneimittel-Agentur Ema schätzt die Wirksamkeit des russischen Stoffes sehr hoch ein. Der russische Präsident hat verkündet, es können bis Mitte Juni 50 Millionen Dosen nach Europa geliefert werden. Schon jetzt werden die Stimmen der europäischen Politiker laut, die sagen, in Zeiten der Not sei jede Hilfe Gold wert. Wir müssen über unsere Konflikte hinwegschauen und die ausgestreckte Hand der Solidarität fester drücken.
Es geht dabei nicht nur um die Gesundheit der Europäer, sondern auch um die zukünftige Reisefreiheit für die Russen. Ohne Zulassung von Sputnik V werden die Russen nicht nach Europa reisen können. Deswegen machen sich jetzt gerade die Länder für Sputnik V stark, die auf russische Touristen zählen.
Sollte der Impfstoff zugelassen sein, werden auch die russischen Impfausweise in Europa anerkannt. Während wir noch mit einem Fuß im Lockdown sitzen, wird draußen gerade die Welt von morgen aufgeteilt, es geht darum, wer in der Zukunft wohin reisen darf und wer nicht.
Die im Gastbeitrag geäußerten Ansichten geben die Meinung der Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.