Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Überall Wetterextreme Katastrophen passieren nicht mehr nur im Ausland
Es habe doch schon immer Wetterextreme gegeben, sagen die Älteren von uns. Aber inzwischen haben wir jedes Jahr Jahrhundertereignisse. Wer das Problem nicht sieht, will es nicht sehen.
50 Grad Celsius in Kanada, verheerende Fluten in Westeuropa, Schnee in Brasilien, riesige Waldbrände am Mittelmeer. Selbst der Juli in Deutschland war zuletzt nicht nur zu nass, sondern in den vergangenen Jahren auch deutlich zu warm. Die zehn wärmsten Jahre weltweit reihen sich in 140 Jahren Messungsaufzeichnungen allesamt nach 2005 auf.
Seit einigen Wochen rollen Hitzewellen und Feuerwalzen im gesamten Mittelmeerraum bis hoch nach Sibirien – aber irgendwie fällt es uns schwer, die Ereignisse im Kontext zu fassen und zu verstehen. Die sporadische Berichterstattung vermittelt den Eindruck, dass Politik und Medien die Situation nicht so recht verstehen und nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen. Wald- und Buschbrände im Mittelmeerraum kommen seit jeher vor, das macht es schwerer zu erkennen, ob eine Situation wie die gegenwärtige außergewöhnlich ist oder nicht.
Woran sich sogleich die Frage anschließt, ob immer erst etwas "Außergewöhnliches" passieren muss, damit Politik und Medien umfassend reagieren. Wenn Temperaturrekorde um wenige Zehntelgrad nicht gebrochen werden, wo ist der substanzielle Unterschied dazu, wenn sie knapp gebrochen werden? Ob man nun 0,5 Grad unter einem Rekord bleibt oder 0,5 Grad darüber, ist im Grunde egal. Dennoch wird meist erst – Olympia sei Dank – der gebrochene Rekord zum nachrichtenauslösenden Ereignis. Das lässt Bürgerinnen und Bürger vielfach im Ungewissen.
- Tagesanbruch: Das Inferno ist da
Ich wünsche mir mehr aufklärende, hintergründige Berichte, die die Zusammenhänge beleuchten und wegführen von einzelnen Ereignissen. Texte wie der von meiner t-online-Kollegin Theresa Crysmann oder Interviews mit einem Feuerökologen wie Johann Goldammer im Deutschlandfunk kommen mir viel zu selten vor.
Stattdessen gibt es zahlreiche Betroffenheitsberichterstattungen: Menschen, die alles verloren haben, klagen ihr Leid in die Kameras. Einsatzkräfte am Rande der Erschöpfung sind ebenso oft zu sehen. Solche Bilder sind wichtig, um über die Gefahren von Bränden zu informieren, aber um zu verstehen, was geschieht, sollten die Zusammenhänge durchschaut werden.
Zum Beispiel, dass solche Ereignisse zur Normalität werden, wenn der Mensch nicht handelt. Im Nordosten Deutschlands gehören Waldbrände schon lange zum Alltag. In den meisten westlichen Teilen nicht. Doch verheerende Flutkatastrophen gehörten dort bislang ebenso wenig zum Alltag. Das wird sich ändern. Man braucht keine Glaskugel, um zu wissen, dass auch der Westen Deutschlands über kurz oder lang Waldbrände erleben wird.
Wetterlagen werden weltweit zunehmend stabiler, weil der Jetstream – der Motor unseres Wetters – stottert. Angetrieben wird er durch den Unterschied der kalten Temperaturen in den nördlichen Regionen um die Arktis und den warmen in den südlicheren Breiten der Nordhalbkugel.
Diese Temperaturunterschiede nehmen im Zuge der Klimakrise ab – im nordfinnischen Lappland hatten wir Anfang Juli über 33 Grad Celsius, so viel wie seit mehr als 100 Jahren nicht mehr. Die Temperaturen zwischen Nord und Süd nähern sich an mit der Folge: Der Jetstream strömt nicht mehr so wie bisher. Die Wetterlagen in unsere Breiten verändern sich daher seltener.
Katastrophen passieren nicht mehr nur im Ausland
In Kanada bedeutete das dieses Jahr: Die Hitzewelle blieb länger an Ort und Stelle, verstärkte die Trockenheit und begünstigte Waldbrände. Für Westdeutschland bedeutete das: Wir haben einen verregneten Sommer, ein Tief folgt auf das andere – und kaum etwas ändert sich daran, was wiederum Starkregen und Unwetter wahrscheinlicher macht.
Man muss kein Meteorologe oder Klimaforscher sein, um zu erkennen: Irgendwann gibt es verheerende Starkregenereignisse in Kanada und massive Hitzewellen in Mitteleuropa, dann eben vielleicht auch mit verheerenden Waldbränden. Die Flutkatastrophe hat uns gelehrt: Katastrophen passieren nicht mehr nur im Ausland.
Der Mensch kann jedoch handeln – und das betrifft nicht allein die Klimakrise. Die Waldbrände in der Mittelmeerregion sind auch Folgen einer sich verändernden Sozioökonomie und Landnutzung, wie Johann Goldammer erläutert. Manche Brände im Mittelmeerraum werden durch den Umzug der Menschen vom Land in die Städte befördert. Durch die Landflucht werden Flächen, die über Jahrtausende landwirtschaftlich genutzt wurden, zur Brache.
Früher führten Hirten Ziegen, Schafe und Rinder durch die Olivenhaine und ließen sie das Grün darunter abfressen. Heute gibt es sie kaum noch. Gras- und Buschland verdichten sich und bieten beste Bedingung für die Ausbreitung von Waldbränden.
Goldammer rät Ländern wie der Türkei, Griechenland, Italien oder Spanien dazu, die traditionellen Formen der Landnutzung wieder zu fördern, statt wie bisher auf Brachen Aufforstungen für monokulturelle Waldplantagen zu betreiben. Für den Feuerökologen sind diese ein wichtiger Grund für die Waldbrände in der Türkei, die schlimmsten in der Geschichte des Landes, wie die Regierung erklärte.
Weil es 50 Grad heiß ist, brennt es noch nicht
Schließlich muss auch jeder von uns verstehen, wie Waldbrände entstehen. Viele glauben, die Hitze selbst würde sie auslösen. Doch nur weil es 40 oder 50 Grad heiß ist, brennt es noch nicht. Allerdings ein heiß gelaufenes Auto, geparkt auf einer vertrockneten Wiese, eine achtlos weggeworfene Zigarette oder Glasflasche, die die Lichtstrahlen bündelt – das kann Brände auslösen.
Auch Brandstiftungen wird es gegeben haben. An vielen Orten ermitteln die Staatsanwaltschaften. In der Türkei erhalten die Brandstiftungen noch eine ideologische Färbung. Manche machen PKK-Kämpfer für Brände verantwortlich. Auszuschließen ist das nicht – aber ebenso sind Verschwörungserzählungen und politische Propaganda von türkischen Nationalisten und Kriegstreibern möglich. Aber wie dem auch sei: Ohne Dürren beziehungsweise mit konsequentem ökologischem Handeln würden diese Brände weniger gigantische Ausmaße annehmen.
Es gibt so vieles zu verstehen in puncto Brände und so vieles, was man selbst und was die Politik tun kann: Aufbrechen versiegelter Flächen, Fassaden- und Dachbegrünung, Renaturierung von Flussauen, Aufforstungen, gelenkte Sukzession, Backburning, und, und, und.
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Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin, Publizistin und Gründerin des Liberal-Islamischen Bunds e.V. (LIB). Derzeit leitet sie ein Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen und ist Kandidatin der Grünen für den Bundestag. Ihr aktuelles Buch heißt "Die Sache mit der Bratwurst. Mein etwas anderes deutsches Leben" und ist bei Piper erschienen.