Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Im Schatten des Nahostkonflikts Antisemitismus – die ungeschminkte Wahrheit
Die antisemitischen Demonstranten sind nicht nur eine Schande für Deutschland. Sie fallen den Palästinensern in den Rücken, den Muslimen, den Migranten. So schaden sie all jenen, die sie eigentlich unterstützen wollen.
Der Zentralrat der Juden gehört zu den wichtigsten Stimmen gegen Rassismus und Islamfeindlichkeit in Deutschland. Er wird nimmer müde, die Auswüchse des Hasses hierzulande auch gegen Menschen muslimischen Glaubens, gegen Menschen mit türkischer, arabischer, nordafrikanischer oder ähnlicher Familiengeschichte zu verurteilen. Er ist seit Jahren immer unter den Ersten, die sich klar und deutlich positionieren. Sein aktueller Präsident Josef Schuster stand bei der Mahnwache für die Opfer des rassistischen Anschlags von Hanau in der ersten Reihe. Für all das möchte ich dem Zentralrat der Juden in Deutschland und Herrn Schuster an dieser Stelle auch ganz persönlich meinen tiefen Dank ausdrücken. Auf meine Solidarität werden Sie immer zählen können.
Es ist eine Schande
Dass nun ausgerechnet Menschen aus diesem Kreis den Zentralrat der Juden attackieren, obwohl er sich so sehr mit für sie einsetzt, ist eine Schande. Achtung! Ich dokumentiere im Folgenden zwei Beispiele für aktuelle Botschaften an den Zentralrat der Juden, die dieser vor Kurzem selbst veröffentlicht hat. Sie sind verstörend, aber sie sind wichtig, um das Ausmaß zu begreifen, über das wir reden:
"Inschallah verrottet ihr ganzen Hurensöhne. Inschallah verbrennt ihr im selben Moment so sehr, und der Teufel tanzt, wenn ihr bei ihm landet. Schämt euch, ihr ehrlosen, landlosen dreckigen Judas. Schade, dass Hitler euch nicht komplett ausgerottet hat."
"Ekelhaft. Wallah, ihr Hurensöhne, ihr Fotzen! Hat euch Hitler zu wenig gefickt, oder was? Ihr Schmocks! Allergrößter Abschaum mit euren Dreckslocken und vollgewichsten Bärten. Ihr Miskins!"
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Diese Worte sind selbst für hart gesottene Empfänger anonymer Hassbotschaften schwer zu ertragen. Hier kommen sie teilweise von Accounts mit echten Porträtfotos und echten Namen. Für solche Auswüchse kann es nie und nimmer Verständnis geben, da können sich die Absender noch so ausgegrenzt, diskriminiert und verloren fühlen. Sie sollte ebenso wie Rechtsextremisten und Rassisten der Bannstrahl der "Cancel Culture" treffen. So haben sie den Anspruch darauf, mit ihren Anliegen gehört zu werden, verwirkt. Ihre antisemitischen Ausfälle sind ein Verbrechen. Die Justizbehörden müssen sie strafrechtlich verfolgen und bestrafen. Die Pläne der Bundesregierung, den Straftatbestand der Volksverhetzung zu erweitern und künftig auch "verhetzende Beleidigung" zu verfolgen, ist überfällig.
Eine weitere Eskalationsstufe des Judenhasses
Seit Jahren nutzen Extremisten die Gesetzeslücke aus, dass §130 StGB nur greift, wenn die Aufstachelung zum Hass öffentlich erfolgt – eine E-Mail an einige wenige Empfänger reicht in der Regel nicht aus. Und wenn niemand persönlich angesprochen wird, ist auch der Straftatbestand der Beleidigung nicht erfüllt. Viele Hetzer kamen in der Vergangenheit ungeschoren davon.
Der Judenhass aus dem Milieu von Einwanderern mit orientalischen Wurzeln ist nicht neu. Aber das massive und offene Auftreten und die jüngsten Ausschreitungen dieser Tage markieren eine weitere Eskalationsstufe. Es beschämt und bedrückt mich zutiefst, dass vor allem junge Leute vor Synagogen aufmarschieren, antijüdische Parolen brüllen, Israel-Flaggen anzünden und Steine werfen.
Antisemiten fallen Palästinensern in den Rücken
Dabei bringen sie eine große Mobilisierungskraft auf. Hunderte, Tausende waren – vielfach spontan – auf den Straßen. Wo sind sie, wenn es gegen Uiguren, Rohingya, Syrer, Kurden geht? Gegen Sunniten, Schiiten, Aleviten, Jesiden, Christen? Gegen Frauen? Wo sind sie, wenn es um den Terror von Dschihadisten geht, um eine tödliche Ideologie, der weltweit unschuldige Frauen, Männer und Kinder zum Opfer fallen – vor allem in muslimischen Ländern?
Wenn es um das Leid anderer Gruppen geht, sieht man sie in dieser Masse nicht auf den Straßen. Mit dem Schicksal der Palästinenserinnen und Palästinenser allein ist die Mobilisierungskraft nicht zu erklären. Erklärbar wird diese Dynamik trotz vieler weiterer soziologischer, psychologischer, religiöser, historischer und politischer Faktoren erst durch Antisemitismus.
Damit tun sie den Palästinensern keinen Gefallen. Sie fallen ihnen vielmehr in den Rücken. Antisemitismus, und dazu zählt die generelle Ablehnung des Zionismus und damit des Existenzrechts Israels, löst (Gott sei Dank) rigide Abwehrhaltungen bei exakt jenen Verantwortungsträgern in Politik und Gesellschaft aus, die man eigentlich bräuchte, um das palästinensische Leid zu lindern.
Auftreten stößt potenzielle Sympathisanten ab
Antisemitismus führt dazu, dass die Anliegen der Menschen im Gazastreifen, im Westjordanland oder in Ostjerusalem noch weniger oder gar nicht erst gehört werden. Das Auftreten der pro-palästinensischen Gruppen stößt potenzielle Sympathisanten ab. Zudem belastet es alle jene, die sich ungeachtet dessen für palästinensische Belange einsetzten wollen, weil es sie dazu nötigt, sich zuerst zum Antisemitismus solcher pro-palästinensischen Gruppen zu verhalten bzw. sich davon abzugrenzen.
Wer "Kindermörder Israel" oder "Stoppt den Holocaust in Gaza" ruft, bürdet darüber hinaus anderen deutschen Bürgerinnen und Bürgern mit muslimischer oder nahöstlicher Familiengeschichte eine Last auf. Solche Parolen nutzen nämlich den völkischen Nationalisten, Rassisten, Rechtskonservativen, Rechtsextremisten, Islamfeinden und sonstigen, die am liebsten nur von "muslimischem" oder "importiertem Antisemitismus" reden würden, um so vom eigenen Antisemitismus und dem der übrigen Gesellschaft abzulenken.
Nahtlos an die Corona-Leugner angeknüpft
Das Problem endet nicht bei den Radikalen auf den Straßen Berlins, Gelsenkirchens, Bonns oder Münsters. Antisemitismus ist unter Menschen mit muslimischem Glauben relativ weit verbreitet – manchmal verklausuliert als sogenannte Israelkritik. Das wollen viele nicht wahrhaben, doch es bringt nichts, sich vor der Realität zu verstecken. In Syrien etwa, von woher zuletzt viele Einwanderer kamen, gehört die Feindschaft zu Israel und die Unterstützung der Hamas quasi zur Staatsräson. Besonders die konservativen Islamverbände in Deutschland sehen sich seit Jahrzehnten immer wieder mit Antisemitismusvorwürfen konfrontiert.
Dennoch – so zu tun, als hätten wir nicht schon seit Jahrzehnten mit einem breiten Antisemitismus in unserer Gesellschaft zu tun, ist ignorant und gefährlich. Gerade in den vergangenen Wochen war das frappant. Die antisemitischen Demonstranten können nahtlos an die Szene der Corona-Leugner anknüpfen.
Ein großes Bildungsproblem
Der Verschwörungsagitator Attila Hildmann kann bislang ungehindert aggressivsten Antisemitismus auf "Telegram" verbreiten. Auf anderen Plattformen werden die großen antisemitischen Hasserzählungen über George Soros oder die Familie Rothschild geteilt. Die "Querdenker" tragen den Wahnwitz in unsere Straßen. Trotz der abscheulichen und abstoßenden Protest-Szenen dieser Tage darf man denjenigen nicht auf den Leim gehen, die die Problematik nur als muslimisches Problem darstellen wollen.
Meine Forschungsteam und ich haben in den letzten Monaten an der Universität Duisburg-Essen mehr als 30 Jugendliche ausführlich zum Thema "Antisemitismus im Jugendalter" interviewt. Und erste Tendenzen sind sichtbar: Beinahe alle Jugendlichen wissen nicht, was der Nahostkonflikt ist.
Viele junge Menschen glauben, Israel sei ein Dritte-Welt-Land. Nahezu alle haben das Thema "Judentum" bestenfalls im Religionsunterricht, das Thema NS-Ideologie und Holocaust im Geschichtsunterricht behandelt. Außerhalb der Schule findet keine Thematisierung oder gar Begegnung statt, pädagogische Begleitung zum lebendigen Judentum gibt es quasi nicht. Erinnerungskultur funktioniert nicht, wenn man diese Aufgabe nur der Schule überlässt. Neben hartem rechtsstaatlichem Durchgreifen brauchen wir hier sehr viel mehr Regelfinanzierung für soziale Projekte und sehr viel mehr geschultes Personal.
Wir müssen auch strukturell etwas verändern. Vielleicht ist es an der Zeit, Beauftrage für rassismuskritische und interkulturelle Bildung auf Landesebene zu installieren, die vor allem außerschulische Bildungsangebote etablieren und begleiten können. Zusätzlich könnten sie in enger Abstimmung mit dem Schulministerium Erinnerungskultur als verpflichtenden Teil des Schulbetriebs einführen. Und wir brauchen eine aufrichtige Debatte über Antisemitismus in unserer Einwanderungsgesellschaft, die nicht darauf aus ist, Minderheiten gegeneinander auszuspielen – oder unbequeme Wahrheiten zu verdrängen.
Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin, Publizistin und Gründerin des Liberal Islamischen Bunds e.V. (LIB). Derzeit leitet sie ein Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen und ist Kandidatin der Grünen für den Bundestag. Ihr aktuelles Buch heißt "Die Sache mit der Bratwurst. Mein etwas anderes deutsches Leben" und ist bei Piper erschienen.