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Corona in Deutschland: Die Krise belastet uns alle immer mehr


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Deutschland unter Druck
Die Corona-Krise belastet uns alle immer mehr

  • Lamya Kaddor
MeinungEine Kolumne von Lamya Kaddor

Aktualisiert am 27.02.2021Lesedauer: 6 Min.
Frau schaut aus dem Fenster einer Kultureinrichtung: Für viele Menschen wird die bestehende Krise zu einer psychischen Herausforderung. (Symbolbild)Vergrößern des Bildes
Frau schaut aus dem Fenster einer Kultureinrichtung: Für viele Menschen wird die bestehende Krise zu einer psychischen Herausforderung. (Symbolbild) (Quelle: ZUMA Wire/t-online/imago-images-bilder)

Wir sind lange über den Punkt hinaus, unseren Kampf gegen Corona allein an Todes- und Infektionszahlen ausrichten zu müssen. Bund und Länder scheinen das begriffen zu haben. Aber leider mal wieder sehr, sehr spät. Vielleicht zu spät.

Diese Woche kam für viele Kinder die ersehnte Erlösung. Nach gut zehn Wochen dürfen sie an einzelnen Tagen in kleineren Gruppen wieder in die Schule gehen. Wer hätte bis vor einem Jahr gedacht, dass Kinder Schule so dermaßen vermissen könnten. Man kann es geradezu sehen, wie das Leben in ihre Körper und ihren Geist zurückkehrt: Sie blühen auf, sprudeln förmlich über.

Es müssen nicht erst die großen Dramen und tragischen Schicksale sein, die zeigen, wie sehr das Andauern der Corona-Krise zum sozialen Problem geworden ist. Psychologinnen und Psychiater beobachten bereits zunehmend Angst- und Essstörungen, Sozialverbände warnen verstärkt vor Vereinsamung unter Seniorinnen und Senioren, die zum Rasten und damit zum Rosten verdammt sind, und Krankenkassen mahnen längst, unter Berufstätigen steigen die Fallzahlen bei Depressionen. Solche Probleme treffen gewiss nicht auf alle Menschen zu, aber SARS-CoV-2 löst auch nicht bei allen schwerwiegende Krankheitsverläufe aus. Dennoch handeln wir konsequent gegen Covid-19.

Alle, die diese Kolumne relativ regelmäßig verfolgen, wissen, dass ich nicht gegen Corona-Maßnahmen bin. Im Gegenteil, gehöre ich doch selbst zur Risikogruppe. Es ist jedoch unverantwortlich, wie wir insbesondere mit Kindern und Jugendlichen in dieser Pandemiezeit umgehen. Kaum Konzepte, kaum Aufmerksamkeit, keine Schnelltests, kein Sport, keine Hobbys, keine gleichaltrigen Freundinnen und Freunde ... einfach nichts. Dieser Zustand wird bei sehr vielen jungen Menschen Wunden hinterlassen, die nicht so einfach zu heilen sind. Ähnliches gilt für manche Erwachsene. Viele Lehrkräfte stöhnen und räumen unter vorgehaltener Hand ein, dass sie beim heimbeschulen ihrer eigenen Kinder an die Grenzen der Belastbarkeit stoßen. Wenn Homeschooling selbst sie überfordert, mag man sich nicht vorstellen, was in manch anderer Familie ohne professionelle pädagogische Kenntnisse los ist.

Virus hinterlässt verheerende Spuren in der Gesellschaft

Wir sind in der Risikoabschätzung lange über den Punkt hinaus, an dem der "Kollateralschaden" des Lockdowns für Kinder und Jugendliche größer geworden ist als der Schaden, der bei ihnen womöglich durch Corona-Infektionen entstehen würde. Wir sind nach elf Pandemiemonaten ebenso lange über den Punkt hinaus, an dem das Virus mehr als die knallharten Schäden durch fulminante Krankheitsverläufe bis zum Exitus verursacht. Das Virus hat vor Monaten damit begonnen, seine langfristig verheerenden Spuren in der Gesellschaft zu hinterlassen. Diese vermeintlich weichen Schäden lassen sich zwar noch nicht allesamt empirisch genau erfassen, aber alle Menschen, die etwas Empathie aufbringen können, spüren, dass sie virulent sind.

Wirtschaftlich vermag Deutschland den Lockdown noch lange durchhalten, gesellschaftlich nicht. Bei der künftigen Gestaltung der Corona-Maßnahmen müssen die gesundheitlichen Entwicklungen im Fokus bleiben: 1. die Todeszahlen, 2. die Entwicklungen in den Krankenhäusern, vor allem auf den Intensivstationen, 3. das Infektionsgeschehen. Je länger die Pandemie allerdings dauert, desto stärker treten soziale und psychische Schäden neben ihnen in Erscheinung und gewinnen an Relevanz. Wenn Bund und Länder nächste Woche zusammentreten, müssen sie das endlich berücksichtigen!

Der Soziologe Armin Nassehi sprach jüngst im Deutschlandfunk von einer "Paradoxie": Angesichts der dritten Welle durch die "britische" Coronavirus-Mutation B.1.1.7 müsste der Lockdown verlängert und verschärft, wegen des "Kollateralschadens" zugleich verkürzt und gelockert werden. Meines Erachtens steht das Land vor diesem Widerspruch weniger hilflos als es scheint. Er lässt sich auflösen – zumindest in Teilen – durch zielgerichtete und differenzierte Maßnahmen. Keine Rasenmäher-Methoden wie bisher: alles zu oder alles auf.

Man kann nach einem Jahr nicht handeln wie am Anfang

Zu Beginn der Pandemie waren Generalisierungen richtig. Heute sind wir weiter, kennen das Virus besser, haben Erfahrungen gewonnen, können Infektionsschutzmaßnahmen besser bewerten, verfügen über Impfstoffe, erste Medikamente, Schnell- und Soforttests. Man kann nicht ein Jahr später mit der Pandemie genauso verfahren wie am Anfang. Wir sollten anfangen, bei der Pandemiebekämpfung zu differenzieren.

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Ende Oktober beschlossen Bund und Länder erste deutliche Verschärfungen der Corona-Maßnahmen, darunter die Schließung von Gastronomie und Kultureinrichtungen. Die Infektionszahlen gingen NICHT zurück. Das trat erst einige Bund-Länder-Konferenzen später ein – nach Weihnachten. Laien schlussfolgern daraus nicht ganz zu Unrecht: Schließungen von Gastronomie und Kultureinrichtungen sind offenbar verpufft, epidemiologisch bringen sie entweder kaum etwas oder gar nichts. Viele haben das schon vorab vermutet, denn dort wo Menschengruppen organisiert werden, lassen sich Ansteckungsgefahren kontrollieren – besser jedenfalls als zu Hause oder im Freien.

Gefahren lauern in Schönwetter-Zonen

Die derzeit frühlingshaften Tage deuten es an, eine der gravierendsten Gefahren lauert wohl künftig am Rheinufer, in städtischen Parks und sonstigen Schönwetter-Zonen, wo Besucherinnen und Besucher sich selbst überlassen werden, Masken abnehmen und auf Abstände pfeifen. Bekannte von mir haben ihren Sonntagsspaziergang am Wochenende deshalb abgebrochen. Es war ihnen zu unsicher. Vergangenen Sommer haben die Menschen gelernt, dass sie vor Ansteckungen durch Aerosole draußen geschützter sind als drinnen. Genau durch diese Rechnung drohen nun ansteckendere Virusvarianten einen Strich zu machen.

Inzwischen beginnen Bundes- und Landesregierungen zu begreifen. Selbst Angela Merkel ist die Einsicht gekommen. Sie spricht neuerdings von "intelligenten Öffnungsstrategien". Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier hat erkannt: "Die Leute haben die Schnauze voll."

Niederlande öffnen wieder

Unsere niederländischen Nachbarn zum Beispiel gehen differenzierter voran. Sie lassen Mannschaftsport im Freien wieder zu, aber nur für junge Leute und ohne Wettkämpfe. An höheren Schulen in den Niederlanden soll es mindestens einen Tag Präsenzunterricht geben, Geschäfte machen auf und dürfen Kundinnen und Kunden nach Anmeldung wieder einzeln empfangen.

Zugleich werden dort wegen der dritten Welle die nächtlichen Ausgangssperren verlängert. Paradox? Vielleicht. Aber so kann es gehen.
Lasst uns doch die Gastronomie zumindest teilweise öffnen – etwa von elf bis 13 Uhr und von 17 bis 20 Uhr mit verpflichtenden Tischreservierungen und sehr guten Hygienemaßnahmen. Das reduziert Mobilität und potenzielle Menschenaufläufe auf den Straßen. Zusätzlich könnten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Polizei und Ordnungsamt an Hotspots mit mehreren Restaurants geschickt werden, um die Kontaktbeschränkungen durchzusetzen, während der Bund weiter Finanzhilfen anbietet, um Gastronominnen und Gastronomen gegebenenfalls zusätzlich zu unterstützen.

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Erfolg von Teilöffnungen unklar

Ob solche oder andere Ideen für Teilöffnungen funktionieren, ist natürlich unklar. Daher sind sie prüfend zu begleiten und gegebenenfalls rückgängig zu machen. Aber solche Experimente sind jetzt dringend erforderlich. Insbesondere, wenn all die Expertinnen und Experten recht behalten, die sagen, die Welt wird noch lange mit dem Virus leben müssen.

Vor sage und schreibe 18 Wochen wurden die Corona-Maßnahmen verschärft. Schon vorher gab es jenseits von "Querdenker"-Spinnereien ernstzunehmende Warnungen vor den sozialen Folgen geschlossener Schulen und Freizeiteinrichtungen oder überzogener Kontaktbeschränkungen. Heute sind solche Stimmen fast täglich in den Medien zu hören, und erst jetzt finden sie ihren Weg in die Gehörgänge der Verantwortlichen.

Wir sind in Deutschland oft so behäbig

Wenn aber erst "alle" aufschreien müssen, damit sich etwas bewegt, ist es womöglich zu spät. Wenn die Politik immer erst handelt, wenn Kritik und Mahnungen unüberhörbar geworden sind, braucht sich niemand zu wundern, warum es überall zu Verzögerungen kommt – sei es beim Impfstart, bei Corona-Tests, der Priorisierung von Lehrkräften und Kita-Beschäftigten, bei Finanzhilfen, Onlinelernplattformen, dem Schutz von Seniorenheimen oder der Corona-Warn-App. Wir sind in Deutschland oft so behäbig und so wenig dynamisch. Statt das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen, reagiert unsere Politik sehr zögerlich.

Einerseits könnte man nun sagen, immerhin reagiert unsere Politik, in anderen Staaten macht sie nicht mal das. Das ist positiv. Andererseits bleibt die Frage im Raum stehen: Muss es stets so lange dauern, müssen stets andere Staaten vorangehen, bis sich hierzulande ebenfalls etwas tut? Das bleibt negativ. Denn besser geht immer.

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Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin, Publizistin und Gründerin des Liberal Islamischen Bunds e.V. (LIB). Derzeit leitet sie ein Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen. Ihr aktuelles Buch heißt "Die Sache mit der Bratwurst. Mein etwas anderes deutsches Leben" und ist bei Piper erschienen. Sie können unserer Kolumnistin auch auf Facebook oder Twitter folgen.

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