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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Durchsetzung von Corona-Maßnahmen Polizei irritiert mit Aussagen – Jurist warnt vor "Notstandsregime"
Das Kontaktverbot verordnet Deutschland die drastischsten Freiheitsbeschränkungen seit dem Zweiten Weltkrieg. Ein Polizeirechtler fürchtet Grundrechtseingriffe über die Krise hinaus.
Der Beschluss der Bundesregierung und der Bundesländer zu Kontaktverbot und Ausgangsbeschränkungen in der Corona-Krise schürt Ängste über die polizeiliche Umsetzung der Maßnahmen. Ansammlungen von mehr als zwei Personen sind für zunächst zwei Wochen verboten. Ausnahmen gibt es laut Bundesregierung nur für Angehörige, die im eigenen Haushalt leben. Die Polizei werde Verstöße hart bestrafen, heißt es. In Bayern warnte die Polizei sogar mit Lautsprecherdurchsagen davor, das Haus aus den angeblich falschen Gründen zu verlassen. Die Aufnahmen sehen Sie auch oben im Video. Solch massive Grundrechtseingriffe gab es in der Bundesrepublik noch nie, auch nicht vorübergehend.
Gilt nun die Ausweispflicht?
Doch es herrscht Unklarheit, wen das Verbot wann betrifft. Wie ist es beispielsweise mit Paaren, die getrennt voneinander leben, ohne eingetragene Lebensgemeinschaft? Schon jetzt irritiert die Polizei Berlin mit Hinweisen in sozialen Medien: Jeder Bürger solle den Personalausweis oder ein Lichtbilddokument mitführen, in dem seine Wohnanschrift ersichtlich sei. Gilt also auf einmal die Ausweispflicht in Deutschland? Darf die Polizei ohne Anlass Menschen kontrollieren? Hat mit Konsequenzen zu rechnen, wer das direkte Umfeld seines Erstwohnsitzes verlässt?
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Nein, sagt der Staats- und Verwaltungsrechtler Clemens Arzt, der an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin zu Polizeirecht forscht. "Ausweiskontrollen bedürfen einer rechtlichen Grundlage", sagte Arzt t-online.de. "Es muss ein plausibler Anfangsverdacht mindestens einer Ordnungswidrigkeit vorliegen. Das gilt auch im Falle des Infektionsschutzgesetzes."
Ausweiskontrollen seien in der Regel ungeeignet, um die Verordnungen durchzusetzen. Es gehe schließlich um Gruppen und nicht um Einzelpersonen. Zudem haben Bund und Länder explizit zahlreiche Situationen formuliert – wie den Weg zur Arbeit oder auch individuellen Sport –, die weiter problemlos möglich sein sollen. Das allein schütze aber nicht vor ungerechtfertigten Grundrechtseingriffen.
Kritik: Keine klaren Rechtsgrundlagen für Notstandsregime
Denn ob Beamte die Angaben von Kontrollierten plausibel finden, sei ihnen überlassen, sagte Arzt. Im Ernstfall drohten Platzverweise, Ordnungswidrigkeitsanzeigen oder sogar Unterbindungsgewahrsam. "Der dürfte in der Regel aber unverhältnismäßig sein – und auch ungeeignet." Denn das Infektionsrisiko sei in Gewahrsam schließlich erheblich höher.
Die Polizeibehörden seien deswegen gefragt, ihren Mitarbeitern verhältnismäßige Vorgaben zu machen. Angesichts "des in wenigen Tagen eingeführten Notstandsregimes" fehlten klare Rechtsgrundlagen und entsprechende Schulungen. Darum werde es mit Sicherheit zu mutmaßlichen Gesetzesverstößen seitens der Polizei kommen.
- Kritik aus der Opposition: "Mit Grundgesetz nicht vereinbar"
Gelassener beurteilt der Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK) die beschlossenen Maßnahmen und ihre Umsetzung. "Die Bewegungsfreiheit von Einzelnen soll nicht eingeschränkt werden", sagte Sebastian Fiedler t-online.de. Es gehe beim Kontaktverbot "vor allem um unzweifelhafte Gruppenbildungen, nicht um überflüssige Kontrollen von Einzelpersonen oder Familien". Es müsse nun bei diesen "klaren, simplen Regeln bleiben", um "überbordende, unnütze Kontrollen" auszuschließen. Er räumte aber ein: Tatsächlich sei "Fingerspitzengefühl der Beamten gefragt".
Ordnungspolitische Krise befürchtet
Ähnlich sieht es Rafael Behr, der an der Akademie der Polizei in Hamburg lehrt. Die Verhältnismäßigkeit müsse gewahrt bleiben, Einzelpersonen seien "polizeilich nicht relevant". "Es herrscht keine Residenzpflicht, die Bewegungsfreiheit wird nicht verunmöglicht. Menschen dürfen Stadt und Bundesland weiterhin verlassen", sagte Behr t-online.de.
Der Hinweis der Berliner Polizei auf das Mitführen von Ausweisdokumenten solle vermutlich nur die Identitätsfeststellung beschleunigen, falls sie denn konkret erforderlich sei. "Polizeibeamte sind daran interessiert, sich nicht zum Gegner der Bevölkerung zu machen", sagte Behr. Andersherum sei auch "Verständnis und Folgsamkeit" der Bürger gefragt. Die Polizei Berlin präzisierte sich am Montag schließlich, man werde vor allem Gruppen mit mehr als zwei Menschen kontrollieren. Niemand müsse befürchten, ständig in Kontrollen zu geraten.
Für völlig ausgeschlossen hält Behr allerdings nicht, dass die beschlossenen Verordnungen polizeilich ausufern. Noch gehe die Polizei freundlich und aufklärend vor. Das könne sich allerdings im Zuge der Corona-Krise ändern. "Sollten Menschen beginnen, die Verbote zu umgehen, werden sie als Störer angesehen", sagte Behr. Dann drohten Strafen. Welche genau? Das sei noch unklar. "Die Corona-Krise könnte von einer gesundheitspolitischen Krise zunehmend zu einer ordnungspolitischen Krise werden."
Auch Polizeirechtler Arzt befürchtet, dass sich das "Notstandsregime" der Corona-Krise in Deutschland verselbstständigt – und zu permanenten Einschränkungen führt. "Wenn 'zwingende Notwendigkeiten' zu Eilgesetzgebung und Wildwuchs im Verordnungswege führen und damit zu Verboten und polizeilichen Maßnahmen, geraten Bürgerrechte schnell in Gefahr." Das habe man auch in Zeiten der Roten Armee Fraktion (RAF) und in der Folge der Anschläge des 11. September beobachten können. "Das wurde später fast durchgängig vom Bundesverfassungsgericht beanstandet."
- eigene Recherchen