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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Trotz, Zögern, Rückzug? Jetzt sind drei Szenarien denkbar
Joe Biden steht im Auge eines politischen Hurrikans und noch ist unklar, ob er sich daraus noch einmal befreien kann. Diese Szenarien sind möglich.
Bastian Brauns berichtet aus Washington
Der heutige 4. Juli ist Independence Day in den USA. Am amerikanischen Nationalfeiertag wird normalerweise in jedem Jahr die Unabhängigkeit von der britischen Krone gefeiert. Auch dieses Mal scheint auf den ersten Blick alles wie immer zu sein, zumindest liest sich das Tagesprogramm des amtierenden US-Präsidenten Joe Biden so:
- Am Nachmittag werden der Präsident und die First Lady ein Barbecue mit aktiven Militärangehörigen und ihren Familien ausrichten.
- Am Abend werden beide eine Feier zum Unabhängigkeitstag für Angehörige von Soldaten und Veteranen, für Betreuer und Überlebende veranstalten und eine Ansprache halten.
- Danach wird Biden mit seiner Frau vom Weißen Haus aus das Feuerwerk zum Unabhängigkeitstag über der National Mall betrachten.
Aber nichts ist normal an diesem 4. Juli 2024. Joe Biden befindet sich mitten im wohl schlimmsten politischen Hurrikan seines Lebens. Er droht, zunehmend die Kontrolle über die veröffentlichte und über die öffentliche Meinung zu verlieren. Die Medien berichten fast nur noch über Rücktrittsforderungen und seinen mutmaßlichen Gesundheitszustand. Dazu bricht er nicht nur gegenüber Donald Trump in zahlreichen Umfragen ein. Plötzlich scheint selbst seine Vizepräsidentin Kamala Harris nach Jahren des Schattendaseins doch viel beliebter als gedacht zu sein und zieht den Demoskopen zufolge an ihm vorbei.
Und auch innerhalb seiner Partei nimmt der Druck auf Biden immer weiter zu. Es gibt Demokraten, die nicht mehr nur seinen Rückzug von der Kandidatur, sondern sogar seinen sofortigen Rücktritt als Präsident fordern, getreu dem Motto: Wer nicht fit für eine Kandidatur ist, kann auch nicht fit für das wichtigste Amt des Landes sein. Im Kapitol zirkuliert ein Schreiben, das von möglichst vielen Abgeordneten unterzeichnet werden soll. Das Ziel: ein gemeinsamer Brief an den Präsidenten, sich zum Wohle der Nation zurückzuziehen.
Wie geht es jetzt weiter? Diese drei Szenarien sind denkbar:
1. Das Trotz-Szenario
Zumindest nach außen hin gibt sich Joe Biden kämpferisch. In einem Telefonat mit Mitarbeitern, das wohl ganz gezielt an die Presse gespielt wurde, sagte der Präsident offenbar Folgendes: "Lassen Sie es mich so klar und deutlich wie möglich sagen: Ich kandidiere.", "Niemand drängt mich raus.", "Ich gehe nicht. Ich bin bis zum Ende dabei und wir werden gewinnen."
Es scheint die Kommunikationslinie zu sein, auf die man sich im Weißen Haus und im Wahlkampfteam vorerst geeinigt hat. Presssprecherin Karine Jean-Pierre stellte vor Journalisten im Weißen Haus ebenfalls klar: "He’s running" ("Er tritt an"). Die Pressekonferenz brach sie kurzerhand ab, als eine Reporterin zum Schluss noch einmal die Frage stellte, ob der Präsident nach der versemmelten Debatte womöglich von einem Arzt untersucht worden sei oder sich einem neurologischen Scan unterzogen habe. Jean-Pierres Reaktion: "Das war’s. Wir sehen uns morgen." Der Berichterstattung und den Umfragen zum Trotz schickte Bidens Wahlkampfteam noch am selben Tag einen Spendenaufruf per E-Mail heraus. Die Betreffzeile lautete: "Ich trete an!"
Erfolgsaussichten: Mäßig. Um der aktuellen Dynamik zu entkommen, müsste Joe Biden jetzt nahezu ohne Patzer regelmäßig öffentlich auftreten. Am besten ohne Hilfen, wie etwa einem Teleprompter, von dem er ablesen kann. Er müsste sich den Fragen der Medien spontan und frei stellen und nicht nur in inszenierten Auftritten.
Gelingt es ihm allerdings, die Skeptiker in der eigenen Partei wieder geschlossen hinter sich zu versammeln, hat er Chancen, sich zu erholen. Nach dem Treffen mit den demokratischen Gouverneuren im Weißen Haus gaben sich diese immerhin plötzlich betont optimistisch und stellten sich hinter ihren Präsidenten. Sollte Biden diesen Sturm wirklich überstehen, dürfte ihn das womöglich sogar stärken. Zäh ist Biden, aber eben nicht zeitlos. Erfolg wird er nur haben, wenn er ab sofort liefert.
2. Das Geordneter-Rückzug-Szenario
Joe Biden ist in erster Linie nicht nur Kandidat für die Präsidentschaftswahl, sondern nach wie vor der mächtigste Mann der Welt. Er trägt als Präsident eine Verantwortung, die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten nicht im Stich zu lassen. Immerhin findet in Washington kommende Woche der wichtige Nato-Gipfel zum 75-jährigen Bestehen des westlichen Verteidigungsbündnisses statt.
Es wäre also denkbar, dass der Präsident trotz einer möglichen Entscheidung, sich zurückzuziehen, mit dieser Ankündigung noch wartet. Zumindest bis nach dem Nato-Gipfel, zu dem immerhin die Staats- und Regierungschefs aller Mitgliedsländer anreisen. Dieser Termin ist seit Monaten geplant, und er stellt für Joe Biden prinzipiell auch die Möglichkeit dar, sich der Weltöffentlichkeit noch einmal als starker Anführer zu präsentieren. Entscheidet er sich wirklich zu gehen, wird er mit Würde abtreten wollen, auch von der internationalen Bühne.
Erfolgsaussichten: Gut. Solch ein geordneter Rückzug würde von einer gewissen Souveränität zeugen. Joe Biden könnte darlegen, dass er nach reichlicher Überlegung zu diesem Schluss gekommen ist. Sollten sich die schwachen Umfragewerte nicht bessern, hätte er auch einen Beleg für sein notwendiges Handeln. Während der kommenden Monate wäre außerdem noch Zeit, seine Stellvertreterin, Vizepräsidentin Kamala Harris, als Kandidatin aufzubauen.
- Kommentar: Biden sollte schnellstens abtreten
Harris könnte dann anders als in den vergangenen dreieinhalb Jahren öffentlich stärker in Erscheinung treten. Die bereits gesammelten Spendengelder in Millionenhöhe könnten umgeschichtet und der Wahlkampf auf eine andere Person ausgerichtet werden. Ein geordneter Rückzug hätte den Vorteil, das Haus zu bestellen und einen kontrollierten Übergang hinzubekommen – auch mit einem anderen Kandidaten als Kamala Harris. Die wichtigste Voraussetzung dafür: Nach außen muss Einigkeit glaubhaft vermittelt werden.
3. Das Chaos-Szenario
Angenommen, die ohnehin schon negative Berichterstattung nimmt weiter zu: Weitere Aussetzer des Präsidenten werden womöglich an die Medien durchgestochen. Joe Biden leistet sich vielleicht erneut einen gravierenden Patzer. Die Partei und prominente Demokraten wie Ex-Präsident Obama meutern öffentlich. Dann könnte Joe Biden nichts anderes übrig bleiben, als seinen sofortigen Rückzug zu verkünden, womöglich sogar seinen Rücktritt als Präsident. Kamala Harris müsste über Nacht die Amtsgeschäfte übernehmen. Diese Notbremse wäre eine Feuertaufe für die bisherige Vizepräsidentin.
Obwohl Kamala Harris als Vizepräsidentin und als Vizekandidatin der Biden-Bewerbung prinzipiell das erste Zugriffsrecht auf die Präsidentschaftskandidatur hat, könnten andere Parteimitglieder das gänzlich anders sehen. Der kalifornische Gouverneur Gavin Newsom, die Gouverneurin von Michigan, Gretchen Whitmer, und viele andere könnten in einer solchen Situation plötzlich eigene Ansprüche geltend machen und darauf verweisen, dass auch Kamala Harris in den vergangenen Jahren nicht durch besondere Leistungen geglänzt hat.
Am Ende könnte eine sogenannte "open convention" gefordert werden, also ein offener Parteitag, bei dem die bereits gewählten Delegierten frei über einen Kandidaten oder eine Kandidatin ihrer Wahl stimmen können. Mit dem Mitte August geplanten Treffen blieben allerdings nur noch zweieinhalb Monate, um einen schlagkräftigen Wahlkampf auf die Beine zu stellen und möglicherweise unbekannte Kandidaten landesweit bekannt zu machen.
Erfolgsaussichten: Schlecht. Chaos in einer Partei, ganz besonders mitten im Wahlkampf, führt meist zu Vertrauensverlust bei den Wählerinnen und Wählern. Wer den eigenen Laden nicht im Griff hat, kann nicht damit rechnen, einen Auftrag zum Regieren zu erhalten. Die Partei befindet sich bereits zum jetzigen Zeitpunkt im Panik-Modus. Ein Streit über die richtige Führung könnte diese Dynamik nur noch weiter verstärken.
- Eigene Recherchen und Überlegungen