Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Das neue Amerika unter Biden Warum die schönen Gipfel-Bilder trügen
Die Masken fallen, Corona scheint besiegt, der Präsident ist bei G7 wieder ein Freund: Die USA zeigen der Welt eine neue Normalität. Klingt zu schön, um wahr zu sein? Genau!
In Washington kann es einem neuerdings leicht passieren, dass man aus der Reihe tanzt. Mir geschah es gleich zu Beginn dieser Woche im Weißen Haus. Als ich am Montag aus der Mittagshitze in den stets gut gekühlten Pressesaal trat, war ich plötzlich, ohne es zu wollen, ein kleiner Corona-Rebell.
Ich hatte natürlich meine Maske auf – war damit allerdings der einzige im vollbesetzten Raum. Es war der erste Tag seit März 2020, an dem der Pressesaal wieder rappelvoll war: Die gesperrten Sitze waren auf einmal freigegeben, so dass man wieder Schulter an Schulter in engen Sitzen klebte. Die allgemeine Maskenpflicht war schon ein paar Tage zuvor gefallen und nun auch noch schlagartig die Pflicht, sich vor dem Betreten des White-House-Komplexes testen zu lassen. (Das muss nur noch, wer mit dem Präsidenten auf Reisen geht.) Es ging Schlag auf Schlag, ich kam kaum noch hinterher.
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Momente wie diesen erlebe ich hier nun öfter. Es geht mit Vollgas zurück in die Normalität. Jetzt nun auch im Washingtoner Politik- und Medienzirkus, in dem man lange Zeit sehr vorsichtig war. Man hört nun viele Sätze mit den Worten “Pandemie” und “vorbei”. Tatsächlich sind die Zahlen der Ansteckungen und Toten in den USA nach unten geschossen. Dass Woche für Woche immer noch tausende Amerikaner an Covid-19 sterben, dass sich immer weniger Impfwillige auftreiben lassen, das sind nur noch Randnotizen.
Die Sehnsucht nach Normalität verdrängt manches – nicht nur beim Thema Corona. Zum pandemiebefreiten Pressebriefing am Montag kam Jake Sullivan vorbei, Joe Bidens Nationaler Sicherheitsberater. Der etwas blasse und sehr freundliche 44-Jährige ist das Mastermind hinter Bidens Außenpolitik.
Er sprach über die Europareise des Präsidenten, die außenpolitischen Vorhaben, den G7- und Nato-Gipfel, das Treffen mit der EU und mit Russlands Präsident Wladimir Putin. Auch hier gilt: Hauptsache zurück zur Normalität. Amerika hat wieder einen Präsidenten, der der Welt zeigen will, wer seine Verbündeten sind und dass er mit ihnen gemeinsam etwas auf die Beine stellen kann.
Joe Biden wird, so weit darf ich mich ohne Risiko aus dem Fenster lehnen, bei den Treffen in Europa keinen Osteuropäer beim Gruppenbild aus dem Weg schubsen. Er wird auch nicht vorzeitig abreisen, um dann noch aus der Air Force One seine Unterschrift unter die rituelle Abschlusserklärung zurückzuziehen, weil ihm eine Bemerkung eines G7-Kollegen in einer Pressekonferenz nicht gepasst hat. Und beim Treffen mit Wladimir Putin wird er vor der Weltöffentlichkeit auch nicht die Erkenntnisse der eigenen Geheimdienste dem Worte Putins unterordnen. Um nur einige der Ungeheuerlichkeiten aus den Gipfeln mit US-Präsident Donald Trump zu nennen.
Die sorgsam inszenierten Bilder der Gipfel werden also Normalität ausstrahlen. Doch der Schein kann auch hier trügen. So erleichtert die Europäer sind, dass aus dem Weißen Haus jemand mit einer mächtigen Portion Wohlwollen anreist, so hartnäckig haben sich die Zweifel an den USA eingefressen.
Man hört sie immer wieder, wenn man mit europäischen Diplomaten spricht. Schließlich sehen die ja ganz genau, dass zwar im Weißen Haus wieder die Profis übernommen haben, aber der Kongress weiterhin gelähmt ist und bei einer von nur zwei Parteien große Zweifel an Demokratie- und Verfassungstreue angebracht sind. Wer weiß schon, was 2024 alles noch passiert und was dann noch gilt.
Diese Wochen und Monate erfordern auf so vielen Feldern einen gedanklichen Spagat. Genießen wir die Rückkehr einer nicht ganz schlechten Normalität im Alltag und vergessen wir nicht, was dahinter lauert.