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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Bahnbrechendes Urteil Das Ende des Ölzeitalters?
Schlappe für den Ölkonzern Shell: Das Unternehmen muss drastisch nachsteuern – und mehr fürs Klima tun, wie ein Gericht entschieden hat. Was bedeutet das aber konkret?
Erst Ende April entschied das Bundesverfassungsgericht, dass Deutschland die nationalen Klimaziele verschärfen muss. Nun hat ein weiteres Gericht ein historisches Urteil gefällt: Der Ölkonzern Shell muss seine Klimaziele nachbessern.
Damit gaben die Richter eines Den Haager Gerichtes der Klage mehrerer Umweltschutzgruppen statt, die von der NGO Milieudefensie angeführt und von tausenden niederländischen Bürgern als Nebenkläger unterstützt wurde. t-online erklärt, was das Gericht genau entschieden hat – und welche Bedeutung das Urteil für Shell und die Wirtschaft als Ganzes hat.
Was genau hat das Gericht entschieden?
Ein Bezirksgericht in Den Haag verpflichtete das Unternehmen am Mittwoch zu mehr Klimaschutz und ordnete konkrete Emissionsreduzierungen bis 2030 an. Shell trage mit seinem Geschäft zu den "schlimmen" Folgen des Klimawandels für die Bevölkerung bei und sei "verantwortlich" für enorme Mengen ausgestoßener Treibhausgase, hieß es in dem Urteil.
Der niederländisch-britische Konzern sowie seine Zulieferer müssen demnach nun die eigenen CO2-Emissionen in den kommenden achteinhalb Jahren um 45 Prozent reduzieren. Als Vergleichswert zog das Gericht den Treibhausgasausstoß des Jahres 2019 heran. "Shell muss diese Entscheidung sofort umsetzen", so die Richter.
Was bedeutet das Urteil für Shell?
Das Urteil ist vor allem eine herbe Niederlage für den Konzern. Shell sprach von einer "enttäuschenden" Entscheidung. Der Ölriese hatte die Forderungen nach mehr Klimaschutz stets zurückgewiesen und angeführt, dass er sich bereits verpflichtet habe, das Klima zu schützen. Erst im Februar hatte der Konzern seine Reduktionsziele angepasst und neue Grenzen formuliert: bis 2030 sollten die Emissionen im Vergleich zu 2016 um 20 Prozent, bis 2035 dann um 45 Prozent reduziert sein. Im Jahr 2050 wollte Shell dann eine Reduzierung von 100 Prozent erreichen.
Das war dem niederländischen Gericht nicht schnell genug. Shell muss nun deutlich nachbessern und mehr CO2 schneller einsparen. Konkret heißt das: ein Verzicht auf den Verkauf enormer Mengen Erdgas und Erdöl. Die raschere Umstellung auf erneuerbare Energieträger wie Solar- und Windkraft, kann auch finanzielle Folgen für das Unternehmen haben: bisher hatte das Unternehmen versucht, hohe Investitionen in Alternativen zu fossiler Energie hinauszuzögern.
Shell hat angekündigt, in Berufung gehen zu wollen. "Ich schätze die Erfolgschancen eines möglichen Berufungsverfahrens als nicht besonders hoch ein", sagte Umweltanwalt Remo Klinger gegenüber t-online. Grund sei ein früheres Urteil aus den Niederlanden, auf das sich die Richter im Shell-Fall gestützt hätten. "In der sogenannten Urgenda-Entscheidung wurden die Niederlande 2015 verurteilt, die Treibhausgasemissionen bis 2020 deutlich zu reduzieren." Das höchste Gericht des Landes habe die Berufung gegen jenes Grundsatzurteil 2019 zurückgewiesen, so Klinger.
"Wer nicht mit der Zeit geht, der geht mit der Zeit"
Das sieht auch Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). "Shell ist nun gut beraten, endlich umfassend zu investieren", sagte sie im Gespräch mit t-online. "Wer nicht mit der Zeit geht, der geht mit der Zeit."
Sie glaubt aber, dass der Ölkonzern die Umstellung schaffen könne, "obwohl die Vorgabe durchaus ambitioniert ist". Der Konzern hätte viel früher in erneuerbare Energien und klimaschonende Treibstoffe investieren müssen, so Kemfert. "Das ist leider nicht ausreichend passiert – jetzt muss Shell nachsteuern und sehr viel auf einmal machen."
Welche Folgen hat das Urteil für die Wirtschaft?
Die Konsequenzen des Urteils sind auch für andere Unternehmen erheblich. Denn: Es ist das erste Mal, dass ein Gericht einen Konzern zum Klimaschutz verdonnert hat.
Ökonomin Kemfert vom DIW sieht das Urteil als Zäsur für die Branche. "Die Entscheidung hat eine absolute Signalwirkung", sagte sie im Gespräch mit t-online. "Auch für globale Energiekonzerne ist das ein klares Zeichen: raus aus den fossilen Energien und rein in die Erneuerbaren."
"Unabhängig von der juristischen Einordnung und Reichweite des Urteils wird es einen wichtigen Impuls für die internationale Klimapolitik liefern", sagte auch Wilfried Rickels, Klimaökonom am Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW Kiel), gegenüber t-online. Wenn Konzerne wie Shell für ihre globalen Emissionen haftbar gemacht werden können, verringert sich für sie der Anreiz, Emissionen zu verlagern."
Weitere Klagen gegen Unternehmen anhängig
Das heißt: Firmen werden künftig mehr in den Klimaschutz investieren – und mehr Geld für CO2-Kompensation ausgeben müssen. In der Umstellung auf erneuerbare Energie sieht Ökonomin Kemfert allerdings vor allem Chancen.
"Erneuerbare Energien, Energieeffizienz, klimaschonende Treibstoffe und digitale Geschäftsmodelle bergen auch in diesem Sektor enormes Potenzial", sagte sie. "Das Urteil ist jetzt ein weltweit wichtiges Signal, dem die internationalen Ölkonzerne auch in ihrem eigenen Interesse folgen müssen."
Urteil stellt Besonderheit dar
Die Klage – und somit das Urteil – stellt eine Besonderheit in der Geschichte der Konzernklagen dar. Denn es geht in diesem Fall nicht um entstandene Schäden – sondern um wahrscheinliche künftige Schäden. Auch das ist eine Parallele zum Klima-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von Ende April 2021.
Rechtsanwalt Klinger, der selbst bereits Klagen von Umweltschutzorganisationen vor Gericht gebracht hat, freut sich über diese Zukunftsdimension besonders. "Bisher wurden Verfahren gegen Unternehmen ja meist mit dem Ziel einer Geldentschädigung geführt. Eigentliches Ziel muss es doch sein, dass der Schaden erst gar nicht entsteht."
Weitere sehr ähnliche Konzernklagen sind überall auf der Welt noch anhängig, auch gegen den deutschen Energieriesen RWE. Auch hier erwarten Experten ein richtungsweisendes Urteil.
Klimaschützer bejubeln Urteil
Umweltschützer nahmen das Urteil daher begeistert auf. So sprach Greenpeace von einem "Paukenschlag für die Ölindustrie" und einem "historischen Erfolg für alle, die unermüdlich für mehr Klimaschutz eintreten".
Das Urteil reiche weit über Shell hinaus und warne jedes Unternehmen, "dass Geschäftsmodelle auf Kosten von Natur und Klima nicht länger zulässig sind".
- Eigene Recherche
- Telefonat mit Claudia Kemfert, DIW
- Statement von Wilfried Rickels, IfW Kiel
- Mit Material der Nachrichtenagenturen AFP und dpa