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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Picky-Eater oder Supertaster? Wenn alles überaus intensiv schmeckt
Wir alle haben unsere Essensvorlieben. Und dass Kinder keine bitteren Oliven mögen, Fettränder am Fleisch abschneiden oder nur Fisch in Form von Fischstäbchen und nicht glotzenderweise im Ganzen verzehren – das verwundert nicht.
Wenn allerdings die Auswahl dessen, was ein Kind zu sich nimmt, sehr klein ist, dann machen Eltern sich natürlich Sorgen. Manchmal handelt es sich um ein Machtspiel, aber oft hat das Nichtessenwollen ganz andere Gründe. Man spricht hier von selektiven Essstörungen und im Extremfall von Supertastern: Kindern mit einer ganz besonderen Gabe.
Ein schlechter Esser ist kein Grund zur Sorge
Kinder sollen abwechslungs- und vitaminreich essen. Die Realität aber sieht oft anders aus. Nudeln mit Ketchup und Ketchup mit Nudeln, die Kartoffeln, wenn überhaupt nur in Form von Pommes und Gemüse wird gleich mal kategorisch abgelehnt. Die meisten Kinder sind weit entfernt von den von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (dge) täglich empfohlenen fünf Händen Obst und ihre Eltern schwanken zwischen Verzweiflung und Wut über ihren kleinen Suppenkaspar. Oder wie man heute sagt: Picky-Eater.
Aufläufe, neue Rezepte, gesunde Salate – alles wird mit einem angewiderten Gesicht weggeschoben. Ratschläge wie "Kochen Sie doch gemeinsam mit Ihren Kindern" oder "Legen Sie das rohe Gemüse in lustiger Gesichtsform auf den Teller, dann schmeckt es auch" helfen da oft nicht weiter. Zunächst sollte man sichergehen, dass es keinen traumatischen Auslöser gibt und keine Nahrungsmittelunverträglichkeit oder andere medizinische Ursachen für das selektive Essverhalten vorliegen. Und dann genügt es, gelassen zu bleiben. Denn Nährstoffe werden gespeichert.
Jedes zehnte Kind ist ein Supertaster
In Studien hat man festgestellt, dass sich ein Kind bis zu zwei Jahre lang sehr einseitig ernähren kann und trotzdem keine signifikanten Entwicklungsverzögerungen auftreten. "Solange ein Kind fünf oder mehr verschiedene Lebensmittel zu sich nimmt, ist der Nährstoffbedarf grundsätzlich gedeckt", erklärt Dr. Nikolaus von Hofacker, in Deutschland einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Fütter- und Essstörungen im Kindesalter.
Und genau diese Menge trifft oft auf eine Gruppe zu, mit der er sich besonders intensiv beschäftigt: die Supertaster. "Ein Phänomen, das zehn bis fünfzehn Prozent der Bevölkerung betrifft – in verschiedenen Ausprägungen." Die Geschmackspapillendichte ist bei Supertastern zwei- bis dreimal so hoch. Das heißt, alles schmeckt auch entsprechend intensiv. "Man erkennt das bereits bei kleinen Kindern daran, dass sie mit einem deutlichen Ekel reagieren. Nicht nur provokativ das Essen ablehnen, zum Beispiel, weil sie schlechte Erfahrungen gemacht haben."
Eine selektive Essstörung muss dann in Betracht gezogen werden, wenn ein Kind regelmäßig Nahrung verweigert aufgrund von Aussehen, Geruch, Geschmack oder Konsistenz.
Ältere Kinder gewöhnen sich schwerer an neue Geschmacksrichtungen
Wer Reize als extrem empfindet, wird automatisch vorsichtiger. Da verwundert es nicht, dass Supertaster häufig allgemein ängstlich reagieren. Noch ängstlicher als die anderen, denn grundsätzlich sind alle Kinder Neophobiker, wenn es ums Essen geht. Sie mögen es nicht, wenn ihnen etwas Neues serviert wird.
Das "Probierfenster" in ihrer Entwicklung, in dem sie sich an verschiedene Geschmäcker gewöhnen, ist nur kurze Zeit weit geöffnet: vom sechsten Lebensmonat bis zum Ende des zweiten Lebensjahres. Leicht zu erklären, denn mit einem halben Jahr werden Kinder neugierig auf feste Nahrung, mit zwei Jahren bewegen sie sich weit genug von der Mutter weg, um zumindest momenteweise auf sich selbst gestellt zu sein – da ist es gut durchdacht von der Natur, dass die Kinder dann extrem vorsichtig werden mit dem, was sie sich in den Mund stecken.
Das heißt aber auch, je älter die Kinder werden, desto schwieriger ist es, sie an ein größeres Nahrungsspektrum zu gewöhnen. Denn das Problem bei den Supertastern ist zweischneidig. Zum einen ist da die genetische Abneigung, zum anderen fallen die Familien aber auch in Muster. Kein Wunder, ist Füttern doch eine elementare Elternaufgabe. Es wird also alles getan, damit das Kind isst. Und das nimmt manchmal sehr seltsame Formen an.
Angeborene Abneigung gegen Bitteres ist bei Supertastern ausgeprägter
Schon Ungeborene haben eine Vorliebe für Süßes – ein reiner Überlebensinstinkt, denn was von Natur aus süß ist, ist ungiftig. Für Supertaster darf es aber zum Beispiel nicht zu süß sein. Allein das unterscheidet sie schon von allen anderen Kindern. "Schokolade, Eis oder Gummibärchen kann mein Sohn kaum essen, er mag nur Salzbrezeln", berichtet Sonja, Mutter eines Supertasters.
Aber besonders extrem reagieren diese Kinder auf Bitteres: Grapefruit, Brokkoli oder Spinat sind undenkbar. Das Einnehmen mancher Medizin fast unmöglich. "Da kann es bei extremen Geschmäckern sogar zu geröteter Haut oder tränenden Augen kommen", weiß Dr. von Hofacker.
Als besonders eklig empfinden die Betroffenen fettige Substanzen oder Krümel im Essen. Supertaster schmecken nicht nur genauer, sie sind oft auch auf anderen Gebieten hochsensitiv, nehmen zum Beispiel Gerüche viel intensiver wahr. Nikolaus von Hofacker gehört selbst zu diesen Menschen, wenn auch nicht in ausgeprägter Form. "Ich kann aber zum Beispiel vorhersagen, wann die Milch sauer wird. Das macht andere immer ganz nervös, weil sie es noch nicht wahrnehmen", amüsiert er sich. "Ich erlebe diese Gabe als echte Bereicherung.“
Supertastern wird einseitiges Essen nicht langweilig
Supertaster selbst empfinden es grundsätzlich nicht als einschränkend, ihnen wird das einseitige Essen nicht langweilig. Aber die, die sie versorgen, verzweifeln manchmal fast. Vor allem, wenn die Kinder älter werden, im Kindergarten oder Hort essen sollen, Klassenfahrten anstehen. Da kann das schnell zu einem sozialen Problem werden.
"Die Umwelt ist ganz entscheidend. Das Kind braucht Raum und Zeit, um sich allmählich mit neuen Geschmäckern vertraut zu machen. Eltern geraten hier schnell in einen Teufelskreis, wenn sie nicht wissen, was mit ihrem Kind los ist.“ Und können es kaum aushalten, wenn das von ihnen gekochte Essen wieder und wieder abgelehnt wird. Doch nicht umsonst sagt man, ein Kind muss alles mehrmals probieren, bevor es ihm irgendwann vielleicht schmeckt. Um Geschmack einzuordnen, braucht es möglichst viele erlebte Geschmäcker und bei Supertastern ist das im Prinzip nicht anders.
Ein Apfel ist schon "wabbelig"
"In der Therapie wird das Kind langsam an neue Lebensmittel herangeführt mithilfe eines Lebensmittelbarometers. Bei 100 sind die, die es sich gar nicht vorstellen kann, bei 10 die, die man ja vielleicht mal versuchen könnte. Und da kann der Teufel schon im Detail stecken – wenn das Kind zum Beispiel Bananen nur dann isst, wenn sie eine ganz bestimmte Farbe und Konsistenz haben."
Der Kinder- und Jugendpsychiater lässt sich genau schildern, was das Kind beim Essen erlebt. Die Detailschilderungen, so berichtet er, übersteigen oft jede Vorstellung. "Ein Supertaster erlebt die Welt wie unter einem Vergrößerungsglas." Mit einer Intensität, die andere nicht spüren.