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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Kinder brauchen klare Regeln Kumpelhafte Eltern schaden ihren Kindern
Wissen Eltern nicht mehr, was Erziehung ist? Einer Studie zufolge
"Eltern, erzieht uns endlich wieder!" Mit dieser Forderung betitelte kürzlich der "Stern" eine Reportage zum Familienalltag in Deutschland. Das Magazin hatte dazu beim Rheingold-Institut eine Studie zum Thema "Fordernde Könige oder gefangen in der Überforderung?" in Auftrag gegeben.
Dabei wurden 28 Mädchen und Jungen zwischen acht und 15 Jahren zu ihrem Alltag, ihren Sorgen, Ängsten und Wünschen befragt. Im Abgleich mit weiteren 200 Interviews von anderen Kindern und Jugendlichen entstand ein differenzierter Einblick in die Befindlichkeit der jungen Generation.
Kinder wollen Regeln und Verbindlichkeit
Überraschend: Obwohl es vielen Kinder in Deutschland materiell an nichts fehlt, fühlen sie sich oftmals nicht sicher und geborgen. Ihre Defizite sind also eher emotionaler und seelischer Natur. Der Studie zufolge empfinden Kinder ihre Eltern häufig als instabil, inkonsequent und nicht berechenbar. Das ist ein nicht zu unterschätzender Stressfaktor. Die Folge: Kinder sehnen sich nach Verbindlichkeit, die eine Voraussetzung dafür ist, Grundvertrauen aufzubauen und unbeschwert zu leben.
Es mangelt an klaren Regeln und Rollen in den Familien
Eine Ursache für die tiefe Verunsicherung seien unter anderem die labilen Familienstrukturen, kommentieren die Autoren der Studie. "Durch Trennungserlebnisse und Patchwork-Familien ist die Welt der Kinder brüchig geworden (…). Auch der Alltag in einer intakten Familie ist nur noch wenig durch klare Routinen und Regeln bestimmt und ritualisiert. Vater und Mutter haben kein klares Rollenbild mehr (...) Die Eltern werden daher von den Kindern oft als nicht verlässlich erlebt. Sie variieren in ihrer Rolle, sind mal Erziehungsberechtigter, mal Freund oder Vertrauter für das Kind."
Eltern wollen Kumpel ihrer Kinder sein
Auch der renommierte Erziehungswissenschaftler Albert Wunsch meint, dass vielen Kindern ein Rahmen fehlt, an dem sie sich orientieren können. Zu sehr wollten moderne Eltern ihren Kindern als guter Kumpel auf Augenhöhe begegnen, auf keinen Fall anecken und streng erscheinen.
"Sie positionieren sich häufig nicht klar genug gegenüber ihrem Nachwuchs, weil das in unserer Gesellschaft bereits als hart und autoritär und damit nicht zeitgemäß eingestuft wird", erläutert der Experte gegenüber t-online.de. "Mein Eindruck ist, dass heute permanent im Konjunktiv erzogen wird, auch weil Eltern ständig fürchten, etwas falsch zu machen. Doch wenn dem Streichholz die Reibungsfläche fehlt, kann nie ein zündender Funke entstehen."
"Kinder brauchen klare Eckpunkte"
Mit dieser weichgespülten Pädagogik, die Angst vor mühevollen Konfrontationen wiederspiegelt, handelten Eltern vor allem in ihrem eigenen Interesse. Ihren Kindern täten sie damit keinen Gefallen, kritisiert Wunsch.
Mit Floskeln wie "Überleg doch mal selbst, was richtig ist" oder "Wenn du nicht willst, dann brauchst du nicht" könne man keine Stabilität und Orientierung vermitteln.
"Kinder brauchen klar definierte Eckpunkte. Eltern müssen immer deutlich machen, was ihnen wichtig ist. Sonst werden ihre Töchter und Söhne in einer wachsweichen 'Sowohl-als-auch-Welt' mit tausend Varianten zwischen Richtig und Falsch groß und übernehmen dieselbe indifferente Haltung, ohne je gelernt zu haben, Flagge zu zeigen."
Kindern nicht alle Hindernisse aus dem Weg räumen
Auch der Erziehungsstil von übertrieben fürsorglichen "Helikopter-Eltern" ist kontraproduktiv für die kindliche Entwicklung. Eltern, die ihrem Nachwuchs das Leben so mühelos wie möglich gestalten wollen, bremsen dessen Selbstständigkeit und Selbstfindung aus.
"Wer Kindern ständig Hindernisse aus dem Weg räumt, ihnen Mühe und Schweiß, täglich notwendige Arbeiten oder Mitwirkungen ersparen will (…), der führt diese gezielt in ein Terrain von Misslingen und Zukunftsangst", schreibt Wunsch in einem Artikel für "The European".
"Begegnet euren Kindern wohlwollend-klar"
Wie aber können Mütter und Väter ihre Aufgabe besser erfüllen und ihre Kinder zu mehr Eigenverantwortlichkeit erziehen? "Auf jeden Fall nicht, indem sie ihnen immer ihre Probleme stehlen", sagt der Erziehungswissenschaftler. Eltern müssten begreifen, dass sie nicht die Freunde sind, sondern diejenigen, die den erwachsenen Überblick haben und die Verantwortung tragen, ihr Kind in die Zukunft zu führen.
Unsicheren Eltern rät Wunsch zu pädagogischer "Nachhilfe" und Orientierung in speziellen Kursen, wie sie beispielsweise der Kinderschutzbund und andere Institutionen anbieten.
Der Appell des Experten an alle Eltern: "Nutzt euren gesunden Menschenverstand und scheut euch nicht, auch Fehler zu machen, denn man kann nicht alles wissen. Und ganz wichtig: Begegnet euren Kindern wohlwollend-klar, das kann dann auch konfrontativ wirken. Denn nur starke Eltern können ihren Nachwuchs auch stark machen."
Weitere Informationen: www.albert-wunsch.de
Buchtipp: Albert Wunsch: "Die Verwöhnungsfalle. Für eine Erziehung zu mehr Eigenverantwortlichkeit", München, 2013