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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Frauen stellen zu hohe Ansprüche an sich Das schlechte Gewissen: Markenzeichen vieler Mütter
Zu hoch gesteckte eigene Ziele, Launen und Befindlichkeiten, die einem in die Quere kommen, äußere Umstände, die dazu führen, dass es an Zeit und/oder an der nötigen Gelassenheit für das Kind fehlt - es gibt zahlreiche Gründe, die bei Müttern ein schlechtes Gewissen auslösen. Doch wie viel davon ist noch normal und wann sind die Gewissensbisse bereits ein Zeichen, das ernst genommen werden muss?
Clara jammert und schreit den ganzen Tag schon. Johanna, die Mutter des drei Monate alten Babys, ist mit ihren Nerven am Ende. Stundenlang hat sie das Kind herumgetragen, es getröstet, selbst kaum etwas gegessen, geschweige denn ist sie dazu gekommen, sich zu duschen oder auszuruhen. Clara ist nicht krank, auch nicht hungrig, dafür aber umso unleidlicher. Irgendwann ist Johanna an dem Punkt, an dem sie sich wünscht, kein Baby zu haben, an dem sie alles dafür täte, dass Clara aufhört zu schreien. Um keinen Fehler zu machen, geht sie aus dem Zimmer, lässt Clara allein in ihrem Bettchen weiterschreien, macht die Tür zu und versucht, durchzuatmen.
Schon ist es da, das schlechte Gewissen: Was hast du denn für Gedanken, fragt es. Was bist du für eine Mutter, dass du dein Kind weinend allein lässt? Wie kannst du nur?
Das Positive in den Blickwinkel rücken
Clara und Johanna sind erfunden. Trotzdem passieren Szenen wie diese tausendfach am Tag. Die Foren sind voll mit Müttern, die Ähnliches erlebt haben und nun mit ihrem Gewissen kämpfen. Fast schon um Absolution bitten, die sie in der Regel auch bekommen. Denn, egal, was das schlechte Gewissen sagt, es ist besser, das Kind in einem sicheren Rahmen für ein paar Minuten allein zu lassen, um selbst zur Ruhe zu kommen, als zu riskieren, dass es zu einer Kurzschlusshandlung aufgrund von Übermüdung und Überforderung kommt. Und es ist gut, dass das schlechte Gewissen dabei hilft, so schnell wieder die eigenen Gefühle für das Kind zu erkennen. Den Blick auf das Positive zu lenken.
Ein Abo auf das schlechte Gewissen
Besonders laut läutet die Gewissensglocke bei den Müttern, die versuchen Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen. Sie haben oft das Gefühl, weder zu Hause noch bei der Arbeit genug zu leisten. "Die Ansprüche, die Frauen an sich stellen, sind enorm hoch", erklärt Irene Wieloch vom Koki Netzwerk Frühe Kindheit. "Kinder, Familie, Beruf, jedem möchten sie gerecht werden und dabei auch selbst nicht auf der Strecke bleiben."
Es verwundert daher auch nicht, dass die Mütter mit dem besonders schlechten Gewissen auch die besonders engagierten Mütter sind. Die, die nicht damit leben können, für die Kindergarten-Muffins eine Fertigmischung zu nehmen, in der Wohnung alle Fünfe gerade sein zu lassen, die Haare einfach hochzustecken und den Babymassagekurs zu streichen. Bei diesen Frauen gehören Schuldgefühle zum Alltag. Vor allem dann, wenn nichts mehr klappt: Die Muffins anbrennen, das Kind nicht so will wie man selbst und einem am Schluss die Nerven durchgehen.
Überhöhtes Mutterbild
Häufig steckt auch das Umfeld hinter den Gewissensbissen. Der Partner, der nicht selten unrealistische Erwartungen hat, die Großeltern, die von früher her alles noch ganz anders kennen, aber auch andere Mütter, die einem das Leben schwer machen - weil man nicht stillt, weil man arbeitet oder eben nicht, oder weil sie einem vorzuleben scheinen, was man selbst nicht hinbekommt. Zweifelt man erst einmal an seinen Mutterqualitäten, kommt stark die selektive Wahrnehmung ins Spiel. Plötzlich sind vermeintlich nur noch perfekte Mütter um einen herum.
Kinder müssen nicht immer der Mittelpunkt sein
Viele Mütter haben das Gefühl, dass sie aufopferungsvoll immer für ihr Baby da sein müssen und nur dann eine gute Mutter sind. Zweifelsohne eine Gratwanderung. Denn natürlich braucht ein Baby den Kontakt, braucht Herausforderung und Anregung. Aber all das braucht es nicht rund um die Uhr. "Ein so kleines Kind sollte immer dabei sein, aber es muss und soll nicht der Mittelpunkt sein - das ist ein gewaltiger Unterschied", erklärt die 60-jährige Erika, sechsfache Großmutter. "Es muss lernen, sich auch einmal selbst zu beschäftigen."
Das sieht auch Irene Wieloch so: "Ein Kind, das gar nicht allein spielt, ist vermutlich in einer unsicheren Bindung und muss sich der Aufmerksamkeit immer wieder vergewissern. Ganz wichtig ist es, mit dem Kind zu sprechen, auch während der Hausarbeit. Hört eine Mutter hierbei auf ihr inneres Empfinden, weiß sie das meist von selbst." Das große Problem heute sei, dass immer häufiger alles "richtig" gemacht werden soll, statt auf den allerbesten Ratgeber zu hören, nämlich die Intuition oder innere Stimme.
Nicht jeder, der Schuldgefühle hat, hat Schuld
Die Frage, ob man eine gute Mutter ist, begleitet Frauen ein Leben lang. "Immer, wenn meine Tochter Probleme hat, habe ich ein schlechtes Gewissen - und sie ist inzwischen Mitte 30. Aber Erika weiß inzwischen, dass perfekt zu sein, ein Anspruch ist, den niemand erfüllen kann. "Jeder ist mal ungerecht, schlecht gelaunt oder egoistisch. Das ist normal. Warum sollten Mütter hier eine Ausnahme bilden?"
Für Irene Wieloch ist eine gute Mutter diejenige, die echt ist, ohne ihre Launen an anderen auszulassen, die dafür sorgt, dass auch sie Kraft tanken kann. "Loslassen und Vertrauen sind die Zauberworte. Die Oma oder der Papa machen es vielleicht nicht perfekt, aber sie brauchen auch die Chance in Beziehung zum Kind zu kommen, sich kennenzulernen, zu erleben. Wie es Mama macht, weiß das Kind ja schon, aber es braucht weitere Vorbilder, die es auch einmal ohne die Mutter erlebt."
Die Anforderungen an sich selbst überprüfen
Nimmt das schlechte Gewissen überhand, dann sollte man sich ein paar Fragen stellen: Wann kommt es genau? Hat es etwas mit meinen Ansprüchen an mich selbst zu tun und wenn ja, sind diese überhaupt angemessen? Woher kommen diese Ansprüche? Von mir selbst oder versuche ich, die der anderen zu erfüllen? Was würde passieren, wenn man den Vorstellungen, die man selbst oder andere von einem haben, nicht mehr entspricht? "Entscheidend ist es, genau hinzusehen", so Wieloch. "Fehlt meinem Kind etwas, was ich nicht leisten kann? Fehlt es ihm wirklich? Dann ist es ganz wichtig, sich Hilfe zu holen."
Das bayerische Netzwerk KoKi, das die Sozialpädagogin betreut, hat sich zur Aufgabe gemacht, Überforderungssituationen früh zu erkennen und Eltern gezielt zu unterstützen. Unter dem Motto "Damit aus Sorgen keine Probleme werden" werden die Familien vor allem im ersten Jahr von außen unterstützt. "Es ist wichtig, darüber zu sprechen. Wer sich schämt und vorspielt, alles sei perfekt, läuft Gefahr, sich in einen Teufelskreis zu verstricken."
Auch die anderen Bundesländer bieten die sogenannten Frühen Hilfen an. Ansprechpartner sind Kinderärzte, Hebammen, aber auch die Jugendämter, die mit entsprechenden Adressen weiterhelfen können.