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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Papier zur Energiekrise Was der Gas-Notfallplan der EU für Deutschland bedeutet
Um eine akute Gasmangellage zu verhindern, will die Europäische Kommission mit allen Mitteln Energie sparen. Was das für Verbraucher heißt.
Seit Montag fließt wegen Wartungsarbeiten kein Gas mehr durch die Ostseepipeline Nord Stream 1. Doch Russland will keine Garantie geben, dass es nach Abschluss der Reparaturen die Lieferungen wieder aufnimmt. Eine Gaskrise würde die europäische Wirtschaft, aber auch Privatpersonen empfindlich treffen.
Die Europäische Kommission arbeitet daher an einem Notfallplan für die Gasversorgung. Das Papier sieht Einschränkungen für Firmen und Privatpersonen vor. Schlimmstenfalls könnte bei akutem Gasmangel die Versorgung von Kraftwerken der von privaten Haushalten vorgezogen werden.
t-online erklärt, was die EU-Pläne für die Gasversorgung in Deutschland bedeuten.
Was hat die EU beschlossen?
Noch gar nichts. Allerdings hat die Europäische Kommission einen Notfallplan für die Gasversorgung in der EU erarbeitet. Für diesen ist jetzt ein Entwurfspapier im Umlauf, das auch t-online vorliegt. Dabei handelt es sich um eine Sammlung von Ideen zum Einsparen von Gas.
Die Kommission hat dazu Ansätze aus verschiedenen Mitgliedsstaaten zusammengetragen. Unter anderem geht es dabei um den schnelleren Ausbau der erneuerbaren Energien.
Deutlich kontroverser dürfte hingegen die ebenfalls enthaltene Idee sein, womöglich Atom- und Kohlekraftwerke länger weiterlaufen zu lassen. Zuletzt hatte es gerade in Deutschland hitzige Debatten zu diesem Thema gegeben, da die drei letzten Atomkraftwerke planmäßig Ende des Jahres vom Netz gehen sollen.
Auch ein Auktionsmechanismus, der Anreize für Unternehmen schafft, Energie zu sparen und dafür eine Kompensation zu erhalten, sei ein Möglichkeit, schreibt die Kommission. In Deutschland hatte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck eine solche Maßnahme vorgeschlagen.
Die Idee: Die Firmenkunden bieten um die Höhe staatlicher Entschädigungszahlungen, das niedrigste Gebot erhält den Zuschlag. Dahinter steht der Gedanke, dass diejenigen, die niedrige Gebote abgeben, am ehesten auf das Gas verzichten können und durch die Entschädigungszahlungen auf Alternativen ausweichen können, die ohne die Zuschüsse zu teuer wären.
Im Ernstfall käme dann das Gas noch an all jene Betriebe, die am wenigsten darauf verzichten können. Mehr dazu lesen Sie hier. Dieser Mechanismus könnte auch grenzübergreifend umgesetzt werden, ähnliche Modelle existieren bereits auf dem Strommarkt.
Büros sollen weniger geheizt werden
Darüber hinaus gibt es aber auch noch eine Reihe deutlich konkreterer Vorschläge zum Energiesparen. In der zweiten Stufe des Notfallplans sieht das Papier etwa vor, dass öffentliche Gebäude, Büros und kommerzielle Gebäude ab Herbst maximal bis zu einer Temperatur von 19 Grad Celsius beheizt werden sollen. Kühlung soll nur noch auf 25 Grad erfolgen. Ziel sei es, Industrien zu schützen, die für die Lieferketten und die Wettbewerbsfähigkeit besonders wichtig sind.
Auch Haushalte werden dazu aufgerufen, freiwillig weniger zu verbrauchen. "Jetzt handeln kann die Auswirkungen einer plötzlichen Versorgungsunterbrechung um ein Drittel reduzieren", heißt es in dem Entwurfspapier. Es gebe mittlerweile ein "erhebliches Risiko", dass Russland in diesem Jahr Gaslieferungen nach Europa stoppt.
Wichtig bei alldem: Der Plan kann sich noch ändern, es handelt sich nur um ein vorläufiges Papier. Die Endversion soll voraussichtlich nächsten Mittwoch (20. Juli) offiziell vorgestellt werden. Laut dem Entwurf würde am selben Tag auch die zweite Stufe des Plans ausgerufen.
Wie abhängig ist die EU noch von Russland?
Deutlich weniger als noch im vergangenen Jahr. Insgesamt entsprechen die Gasflüsse mittlerweile weniger als 30 Prozent des Durchschnitts 2016 bis 2021, heißt es in dem Entwurf.
Grund zur Entwarnung ist das allerdings noch nicht. Simulationen der EU-Regulierungsbehörde ENTSO-G haben laut dem Text ergeben, dass ein Lieferstopp im Juli dazu führen würde, dass die Gasspeicher nicht ausreichend befüllt werden können und somit im Winter sowie im nächsten Jahr noch Knappheit herrschen könnte. Käme eine Unterbrechung im Oktober oder später, gäbe es geringere Risiken für die Nachfrage im Winter. Man hätte dann aber weniger Zeit, zu reagieren.
Drastische Auswirkungen für Industrie befürchtet
Die Auswirkungen für die Mitgliedsstaaten hingen davon ab, wie abhängig sie von russischem Gas seien, heißt es. Deutschland gehört hier zu den am stärksten betroffenen Ländern.
2021 machte Gas einen Anteil von 26,7 Prozent der in Deutschland verbrauchten Energie aus und war damit nach Mineral- und Heizöl der zweitwichtigste Energieträger. Erneuerbare Energien lagen mit 16,1 Prozent auf dem dritten Platz. Auf dem Weg zur Energiewende galt Gas damals als wichtige Brückentechnologie.
Ein beträchtlicher Anteil von über 55 Prozent dieses Gases stammte aus Russland. Seit dem Beginn des Ukraine-Krieges ist dieser Anteil laut Angaben der Bundesregierung auf 38 Prozent gesunken.
Die Industrie verbraucht dabei in Deutschland das meiste Gas – 36 Prozent des Gesamtabsatzes 2021. Sie ist dabei aber nicht nur der größte Abnehmer, sondern Gas ist mit über 30 Prozent auch der wichtigste Energieträger in der Industrie.
Was bedeutet das für Deutschland?
Deutschland könnte zum einen seinen eigenen Notfallplan anpassen. Genauso wie der europäische Plan besteht dieser aus drei Stufen und basiert auf den europäischen Verordnungen. Aktuell ist in Deutschland die zweite Stufe, die sogenannte Alarmstufe, ausgerufen. Darin ist auch der besondere Schutz der Privathaushalte festgelegt. Für die Ausgestaltung ist die Bundesnetzagentur zuständig. Alle Details zum deutschen Notfallplan finden Sie hier.
Im Entwurf der Kommission heißt es dazu, dass die Mitgliedsstaaten entscheiden sollen, in welcher Reihenfolge sie die Industrie im Falle eines Versorgungsengpasses zur Schließung zwingen würden. Sie macht dafür ebenfalls einige Vorschläge. So solle berücksichtigt werden, wie wichtig eine Produktion sei und wie sich ihre Schließung auf die Lieferketten auswirke.
Zum anderen könnte der Kommissionsvorschlag die Debatte um die verstärkte Nutzung der Kohlekraftwerke und die Verlängerung der Akw-Laufzeiten anheizen. Diese Maßnahmen wurden zuletzt bereits hitzig diskutiert.
"Jetzt zu handeln, kann die Auswirkungen einer plötzlichen Versorgungsunterbrechung um ein Drittel reduzieren", betont die Kommission. Das deckt sich in weiten Teilen mit dem Credo der Bundesregierung, die die Energieversorgung für den Winter vor allem durch Einsparungen, das Füllen der Gasspeicher und den Bau von LNG-Terminals sichern will.
Was heißt das für mich als Verbraucher?
Das ist noch nicht ganz klar. Bislang galt die Maxime: Privathaushalte haben bei der Gasversorgung in jedem Fall Vorrang. Daran rüttelt der Plan nun. Denn es wird zwar betont, dass Haushalte nach EU-Recht "geschützte Kunden" sind. Dadurch wären sie eigentlich als letzte Gruppe von Gas-Rationierungen betroffen.
Doch im Papier heißt es auch: "In Notfällen können die Mitgliedstaaten beschließen, der Gasversorgung bestimmter kritischer Gaskraftwerke Vorrang vor der Gasversorgung bestimmter Kategorien geschützter Kunden einzuräumen, sofern die Sicherheit der Elektrizitätsversorgung gefährdet sein könnte."
Ähnliche Töne schlug Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck zu Beginn der Woche an. Er hatte Österreich und Tschechien besucht und dort jeweils Solidaritätserklärungen für den Fall einer Gaskrise unterzeichnet. In Wien sagte er dabei, dass auch Privathaushalte "ihren Anteil leisten" müssten. Denn "eine dauerhafte oder langfristige Unterbrechung von industrieller Produktion" hätte "massive Folgen" für die Versorgungssituation. Mehr dazu lesen Sie hier.
- Eigene Recherche
- Entwurf der Europäischen Kommission
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa