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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Weitreichende Entscheidung WTO will Impfstoff-Patente freigeben – was bringt das?
Die WTO hat eine befristete Aufhebung von Patenten auf Corona-Impfstoffen beschlossen. Doch es gibt Kritik an dem Beschluss. Sowohl die Industrie als auch Hilfsorganisationen sind nicht überzeugt.
Impfstoff für alle? Die gerechte Verteilung und der weltweite Zugang zu Impfungen gegen das Coronavirus ist ein andauernder Streitpunkt. Die 164 Mitgliedsländer der Welthandelsorganisation (WTO) haben jetzt einen gemeinsamen, beispiellosen Beschluss gefasst.
Dieser sieht vor, die Patente der Impfstoffe für einen befristeten Zeitraum aufzuheben und sogenannte Zwangslizenzen zu ermöglichen. t-online erklärt, was das für Unternehmen bedeutet sowie für Länder mit niedriger Impfquote. Und warum es viel Kritik an diesem Beschluss gibt.
Was hat die WTO beschlossen?
Die 164 Mitgliedsstaaten der Welthandelsorganisation haben insgesamt fünf Tage verhandelt, dabei herausgekommen sind Beschlüsse für verschiedene Bereiche, darunter auch: Corona-Impfstoffe.
Beschlossen wurde eine Vereinbarung, um die Herstellung von Covid-Impfstoffen in mehr Ländern zu ermöglichen. Diese Patentvereinbarung ist auch als "Trips waiver" bekannt, bedeutet also den Verzicht oder die Beschränkung des sogenannten Trips-Abkommens (Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights) über geistiges Eigentum.
Damit können Regierungen gegen den Willen von Pharmafirmen etwa Zwangslizenzen für die Produktion von Covid-19-Impfstoffen erteilen, ohne den Schutz geistigen Eigentums generell infrage zu stellen, wie der deutsche Staatssekretär im Wirtschaftsministerium Udo Philipp (Grüne) sagte. Zwangslizenzen waren auch vorher möglich, aber sie gehen nun in Teilbereichen etwas weiter. Es entspricht aber nicht einer kompletten Freigabe der Patente.
Warum ist das nicht schon früher passiert?
Die Diskussion über die Freigabe von Impfstoffpatenten wurde bereits im vergangenen Jahr hitzig geführt. Vor allem Hilfsorganisationen forderten, den Patentschutz aufzuheben, um so den Zugang zu Impfungen zu erleichtern und die Kosten für ärmere Länder zu senken. Besonders groß war der Bedarf in Schwellen- und Entwicklungsländern.
Im Oktober brachten Indien und Südafrika einen Antrag auf eine befristete Ausnahmeregelung vom Trips-Abkommen bei der Welthandelsorganisation ein, unter anderem um eine Freigabe der Patente der Corona-Impfstoffe zu erreichen. Damals unterstützten bereits rund 100 Länder diese Forderung, doch gerade aus Deutschland gab es Kritik.
Nun scheint sich dies geändert zu haben. Alle 164 Länder stimmten dem Beschluss zu, was als großer Erfolg für die WTO gilt. Denn globale Spannungen und Konflikte über die Ernennung eines Richters für das Schiedsgericht durch den früheren US-Präsidenten Donald Trump hatten das Gremium zuletzt belastet und handlungsunfähig gemacht. Kritiker halten die Einigkeit nur deshalb für möglich, da der Beschluss die Forderungen verwässert habe.
Was bedeutet das für die Impfstoffhersteller?
Zunächst wahrscheinlich wenig. Viele Unternehmen würden bereits von sich aus Lizenzen vergeben und die Produktion ausweiten, heißt es vom Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie. "Und das, obwohl wir mit massiven Lieferengpässen und Mangel bei Ausgangsstoffen konfrontiert sind. Diese Herausforderungen löst auch keine Patentfreigabe", sagt Kai Joachimsen, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie (BPI).
Das bestätigt auch das Mainzer Unternehmen Biontech , das durch seinen Corona-Impfstoff bekannt wurde. Patente seien nicht der "limitierende Faktor" für die Produktion oder Versorgung mit Vakzin.
Wichtiger sei der Aufbau einer Versorgungskette, die die Herstellung, die Verteilung und die Aufklärung rund um die Medikamente umfasse. Das Unternehmen beginne daher in der kommenden Woche mit dem Bau der ersten Produktionsstätte in Ruanda.
Eine große Sorge der Pharmaindustrie ist, dass durch Patentfreigaben Anreize zur Investition in zukünftige Forschung verloren gehen könnten. "Muss ein Unternehmen befürchten, dass der Ausgleich von Incentivierung und Investition nicht stattfindet, wird es von der Entwicklung weiterer Innovationen absehen. Dies würde nicht zuletzt die Wettbewerbsfähigkeit Europas bei der Spitzenforschung schwächen", so Joachimsen.
Kritiker wollen das allerdings nicht gelten lassen. "Die Beschwerden aus der Industrie sind hanebüchen. Viel Grundlagenforschung wird von der öffentlichen Hand finanziert und in der Corona-Pandemie wurden die Impfstoffhersteller mit Geld vom Bund unterstützt", sagt Lara Dovifat, Internationale Kampagnenmanagerin bei Ärzte ohne Grenzen, im Gespräch mit t-online.
Kommen ärmere Länder nun leichter an Impfungen?
Da gehen die Meinungen auseinander. Die WTO feiert sich für ihren Verhandlungserfolg, der besonders ärmeren Ländern eine Impfstoffproduktion erleichtern soll. WTO-Chefin Ngozi Okonjo-Iweala sprach von einem "beispiellosen" Abkommenspaket, das das Leben der Menschen auf der ganzen Welt verändern werde. "Die Ergebnisse zeigen, dass die WTO tatsächlich in der Lage ist, auf die Notlagen unserer Zeit zu reagieren", sagte die Nigerianerin.
Deutliche Kritik kommt hingegen sowohl von Befürwortern als auch von Gegnern einer Patentfreigabe. "Den Patentschutz bei Covid-19-Impfstoffen aufzugeben, wird die derzeitigen Herausforderungen in der globalen Impfstoffversorgung nicht lösen", sagt BPI-Hauptgeschäftsführer Joachimsen. "Die Impfstoffe werden dadurch weltweit nicht schneller verfügbar. Der Schlüssel liegt dagegen in Lizenzen zum massiven Ausbau der Produktionskapazitäten."
Ärzte ohne Grenzen hatte sich für eine Freigabe der Impfstoffpatente ausgesprochen und ist vom WTO-Beschluss enttäuscht: "Der WTO-Beschluss ist eine Mogelpackung. Es handelt sich nicht um eine tatsächliche Freigabe der Impfstoffpatente, sondern vielmehr um eine Wiederholung von bestimmten Ausnahmeregeln", sagt Kampagnenmanagerin Dovifat.
Kann diese Entscheidung Corona eindämmen?
Unwahrscheinlich. "Durch den WTO-Beschluss ändert sich wenig, daher wird es auch den Verlauf der Pandemie nicht verändern", sagt Dovifat von Ärzte ohne Grenzen. Um Corona einzudämmen, reiche es ohnehin nicht aus, nur auf die Impfungen zu schauen, sondern es müssten auch andere Medizinprodukte mitgedacht werden.
"Es ist ein Armutszeugnis, dass Medikamente und Diagnostik von der WTO nicht berücksichtigt wurden. Ärmere Länder brauchen dies besonders dringend, um die Pandemie in den Griff zu bekommen", so Dovifat weiter.
Hinzu kommt: Schon im vergangenen Jahr hatten Experten bezweifelt, dass ein Aussetzen der Impfstoffpatente eine schnelle Wirkung auf das Pandemiegeschehen entfalten würde, denn gerade mRNA-Impfstoffe wie vom deutschen Hersteller Biontech benötigen spezielles Material. Eine tatsächliche Patentfreigabe könnte aber auf lange Sicht eine Erleichterung für afrikanische Staaten darstellen, da dort aktuell 99 Prozent der Impfstoffe importiert werden müssen.
- Eigene Recherche
- Gespräch mit Lara Dovifat, Ärzte ohne Grenzen
- Pressemitteilung Ärzte ohne Grenzen
- Pressemitteilung BPI
- Deutschlandfunk: "Wie die Coronakrise den Patentschutz ins Wanken bringt"
- Tagesschau: "Zwangslizenzen für Corona-Impfstoff?"
- Mit Material der Nachrichtenagenturen Reuters, dpa und AFP