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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Überraschende Mercedes-Aussage Kann die Industrie viel Erdgas einfach ersetzen?
Mercedes könnte laut eigenen Angaben 50 Prozent seines Gasbedarfs einsparen – schlummert also in der Industrie die Lösung für die Energiekrise?
Es ist eine Meldung, die für Überraschung sorgte: Während die großen Industrieunternehmen die vergangenen Wochen genutzt haben, um gegenüber der Bundesnetzagentur – und nicht weniger der Öffentlichkeit – zu betonen, wie wenig sie auf Gas verzichten können, machte Mercedes nun eine gegenteilige Ankündigung.
Noch in diesem Jahr könnte der Autobauer knapp 50 Prozent seines Gasverbrauchs reduzieren. Mögliche Ausfälle könnte das Unternehmen durch eine Umstellung auf Ökostrom sowie weitere Energiesparmaßnahmen abfangen. In einigen Fällen könnte zudem Gas durch Öl ersetzt werden, teilte das Unternehmen am Mittwoch mit.
Ist das also die Lösung? Kann die Industrie genug Gas sparen, um Deutschland – und seine Verbraucher – sicher durch den Winter zu bringen? "Theoretisch könnten manche Industrien, wie etwa die Chemiebranche, auf Gas als Wärmequelle fast komplett verzichten", erklärt Hubertus Bardt, Geschäftsführer und Leiter Wissenschaft des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln, im Gespräch mit t-online.
Die Chemiebranche ist besonders wichtig für die deutsche Wirtschaft, da sie Grundprodukte für fast alle verarbeitenden Branchen herstellt – auch für den Automobilsektor. Steht sie still, gehen vielen anderen Zweigen die Materialien aus. Doch sie ist besonders hungrig nach Gas.
Keine kurzfristige Lösung
Mit einem Anteil von 15 Prozent ist die Branche der größte Gasverbraucher Deutschlands. "Gas ist für unsere Branche essenziell, zum Beispiel für die Produktion von Wärme und Strom, aber auch als Rohstoff für Produkte", sagt Energieexperte Jörg Rothermel vom Verband der Chemischen Industrie (VCI).
Zumindest viele Verbrennungsprozesse könnten durch Strom ersetzt werden, und so könnte Gas eingespart werden, erklärt Bardt. Auch in anderen Industriezweigen, etwa der Stahlproduktion, arbeiten Unternehmen wie Thyssen Krupp oder die Salzgitter AG an grünen Produktionsformen, die ohne fossile Energien auskommen. Wichtigstes Ersatzmittel ist auch hier der Strom oder Wasserstoff aus Ökostrom.
Und genau hier liegt das Problem für den kommenden Winter. "Langfristig bietet grüner Strom sehr viel Potenzial, aber kurzfristig sehe ich da keine ausreichende Option", sagt der IW-Experte.
Öl und Kohle als Gasersatz helfen nur bedingt
Das bedeutet: Mercedes könnte zwar nach eigenen Aussagen einen Großteil seines Gasverbrauchs reduzieren, aber würden andere Unternehmen dem Vorbild des Autobauers folgen wollen, könnte es beim Strom eng werden. Allein die Chemiebranche benötigte laut Bardt knapp 600 Terawattstunden zur Dekarbonisierung. Das sei so viel Strom, wie Deutschland jährlich produziert und verbraucht.
Andere Unternehmen, wie etwa der Chemiegigant BASF, appellieren daher, dass sie im Falle eines Gasmangels auf jeden Fall priorisiert werden müssten. Am Mittwoch zeigte sich der weltgrößte Chemiekonzern zuversichtlich, auch bei der dritten Stufe des Notfallplans zumindest in eingeschränktem Umfang den Betrieb aufrechterhalten zu können.
An seinem zweitgrößten Standort in Schwarzheide könne das Unternehmen seinen Strombedarf komplett aus Heizöl erzeugen. Doch das ist keine Lösung für die gesamte Industrielandschaft. "Dies ist kurzfristig nur an Standorten möglich, an denen es noch Anlagen gibt, die mit Heizöl oder Kohle befeuert werden können", erklärt VCI-Experte Rothermel.
Unternehmen überlegen bereits, Produktion zurückzufahren
Im Schnitt liegt das Einsparpotenzial in der Industrie bei etwa 8 Prozent, so Bardt. In manchen Branchen könnten auch bis zu 13 Prozent eingespart werden, etwa in der Metallerzeugung, sagt Walter Schneeweiß, Sprecher der IG Metall, zu t-online.
Laut dem EU-Notfallplan sollen die Mitgliedsstaaten von August bis Ende März 2023 allerdings ihren Gasverbrauch um knapp 15 Prozent zurückfahren. Für die Industrie bedeutet das allerdings: Muss sie mehr einsparen, müsste die Produktionen gedrosselt werden – oder im schlimmsten Fall ganz ruhen.
"Bereits jetzt denkt knapp ein Drittel der energieintensiven Unternehmen laut einer Umfrage darüber nach, die Produktion zurückzufahren", sagt Bardt. Das schürt das Risiko einer Rezession und bereitet auch vielen Mitarbeitern Sorgen.
Privathaushalte und Industrie liegen fast gleichauf
"Unternehmen und Politik müssen jetzt daran arbeiten, dass sie Dominoeffekte bei einem Gaslieferstopp verhindern. Es geht um viele Beschäftigte in voneinander abhängigen Unternehmen und damit die industrielle Wertschöpfung", sagt IG-Metall-Sprecher Schneeweiß. Allerdings habe nur jeder zehnte Betrieb in der Branche einen Notfallplan.
Die Industrie kann also die Last nicht alleine tragen. Privathaushalte und Unternehmen lägen mit ihrem Verbrauch laut dem IW-Experten Bardt fast gleichauf. Beide Seite müssen daher Verantwortung übernehmen, fordert die Gewerkschaft IG Metall. "Bei einem kompletten Lieferstopp brauchen wir eine ausgewogene Priorisierung und Lastverteilung zwischen Unternehmen und Privathaushalten."
- Eigene Recherche
- Gespräch mit Hubertus Bardt, IW
- Austausch mit der IG Metall
- Austausch mit dem VCI
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa