Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet."Alles dicht machen" Die Kritik an Liefers ist billig und schäbig
Unter dem Motto "Alles dicht machen" kritisieren Schauspielstars die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung. Das ist nachvollziehbar – die Häme gegenüber der Aktion ist es nicht.
Keine Frage: Die Aktion "Alles dicht machen", an der sich Dutzende Künstler beteiligt haben, sollte Aufmerksamkeit erregen. Und sie sollte wahrscheinlich eine große Debatte über unseren gesellschaftlichen Umgang mit Corona auslösen. Schließlich hat man über ein Jahr lang von vielen Schauspielerinnen und Schauspielerin sowie Musikerinnen und Musikern nichts gehört und nichts gesehen.
Warum haben sie so lange geschwiegen?
Es hat mich gewundert, dass sie über so lange Zeit geschwiegen haben und dass sie all die Maßnahmen der Bundesregierung relativ klaglos mitgetragen haben. Es sind Menschen, denen seit Beginn der Pandemie die Geschäftsgrundlage weggebrochen ist, die häufig nicht auftreten konnten – viele von ihnen sind in die Perspektivlosigkeit und in Depressionen gerutscht. Einige wenige gingen leider noch weiter und richteten ihre Perspektivlosigkeit gegen sich selbst.
Wolfgang Kubicki, geboren 1952, ist stellvertretender Bundesvorsitzender der FDP und Mitglied des Deutschen Bundestages. Am 24. Oktober 2017 wurde er Bundestagsvizepräsident. Kubicki ist neben seiner Tätigkeit als Politiker als Rechtsanwalt Strafverteidiger aktiv.
Und selbstverständlich sind auch sie von den gravierenden Fehlern der Bundesregierung betroffen – von der exekutiven Unwilligkeit, alternative Lösungsmöglichkeiten zu überlegen, Modellprojekte aktiv zu fördern, und von der Unfähigkeit, schnell für ausreichende Tests und Impfstoff zu sorgen, um diese Pandemie bald zu überwinden.
Noch bis zum Zeitpunkt vor der Veröffentlichung der Videos war es Konsens – auch in den Redaktionsstuben –, für die schwierige Lage der Künstler in der Pandemie Verständnis zu haben. Betrauern konnte man diese Misere aus der Beobachterrolle leicht. Jetzt zeigt sich, äußern sollten sich die Betroffenen aber lieber nicht öffentlich über ihre Situation. Besser sollten die Künstler ihr tatsächliches Leid stillschweigend mit sich herumtragen, um nicht in die Gefahr zu geraten, gleich als Nazis, Aluhüte oder Corona-Leugner beschimpft zu werden. Was nun leider geschehen ist.
"Ein Hilferuf von Menschen, deren Branche hart getroffen wurde"
Ich verstehe die Aktion #allesdichtmachen als einen Hilferuf von Menschen, deren Branche deutlich härter getroffen wurde, als diejenige der Journalisten, die sich jetzt leichtfertig über sie erheben. Deshalb ist es billig und schäbig, wenn journalistische Kommentatoren aus ihrer bequemen Kammer heraus von "Wohlstandsverwahrlosung" sprechen. Schließlich verstehe ich die beteiligten Künstler auch als Sprachrohr einer ganzen Branche, die in weiten Teilen mit einem faktischen Berufsverbot belegt ist.
Auch die in den sozialen Netzwerken gebrüllte Kritik an den Beteiligten, sie würden ja keine Lösungsvorschläge anbieten, ist irritierend. Denn die Vorlage von Lösungsvorschlägen wäre von der Bundesregierung zu erwarten gewesen. Dafür ist sie nämlich da. Diese hat allerdings mit ihrer stumpfen und undifferenzierten Lockdown-Politik eine offene Debatte geradezu abgedämpft, während das Parlament – der eigentliche Ort der Debatte – durch die Exekutivpolitik nahezu vollständig ausgegrenzt wurde. Wie also soll man sich denn sonst zu Wort melden, seiner Angst und seinen Sorgen Ausdruck verleihen, wenn nicht über das Mittel, das man als Künstler zu Verfügung hat – die Kunst?
"Man sollte immer den Weg des Respekts gehen"
Der Vorwurf, die Künstler würden mit ihrer Aktion die 80.000 Toten der Corona-Pandemie verhöhnen ist bösartig und infam. Nicht jeder, der einen Lockdown mit nächtlichen Ausgangsperren kritisiert, ist ein empathieloser Querdenker
Man kann – nein: man sollte – über die Art und Weise streiten, wie die Beteiligten ihrem Anliegen Luft verschaffen wollten. Man sollte dabei immer den Weg des Respekts gehen. Deshalb wäre es hilfreich, wenn sich die Debatte in einem Rahmen bewegt, der es zulässt, sich nach der Pandemie noch in die Augen zu schauen.
Dieser Rahmen wurde in den letzten Stunden allerdings deutlich gesprengt. Wenn ein Journalist eine gerade Linie zu NS-Propagandaminister Goebbels zieht, dann ist der Diskurs beendet und der Weg frei zur fröhlichen Denunziation. Und wenn der ehemalige SPD-Landesvorsitzende aus Niedersachsen, Garrelt Duin, fordert, die Öffentlich-Rechtlichen müssten die Zusammenarbeit mit den beteiligten Schauspielern beenden, dann haben wir die Ebene des Anstands, der Moral und der Menschlichkeit verlassen. Wo kommen wir eigentlich hin, wenn Satire, Meinungsäußerungen und Kunst, die unsere Verfassung ausdrücklich schützt, am Ende zum Verlust des Arbeitsplatzes führen können? Mittlerweile haben sich beide Genannten – das soll hier auch erwähnt werden – von ihren Einlassungen distanziert. Dies war richtig und sollte auch anerkannt werden.
"Logik der Twitter-Welt"
Wir müssen wieder lernen, aus der hypertonischen Logik der Twitter-Welt auszusteigen. Es wäre wirklich hilfreich, wenn wir wenigstens versuchen würden, die Welt einmal kurz aus den Augen derjenigen zu sehen, die eine andere Auffassung vertreten, die einen anderen Erfahrungshorizont haben, als wir selbst. Diese Fähigkeit ist uns in den vergangenen Jahren offensichtlich verloren gegangen. Es lohnt sich jedoch, sich dieser Fähigkeit wieder zu besinnen. Denn ich möchte mir keine Gesellschaft vorstellen, in der das Trennende so lange hervorgehoben wird, bis das Trennende obsiegt.
Ich bin wirklich selten einer Meinung mit dem "Monitor"-Chef Georg Restle. Doch hier schon. Auf Twitter schrieb er: "Nicht jeder, der einen neuen Untertanengeist aufs Korn nimmt, ist ein 'Querdenker' oder 'nimmt Tausende Tote in Kauf'. Wir sollten aufhören, uns gegenseitig in Ecken zu treiben, aus denen keiner mehr rauskommt." So ist es.
Die im Gastbeitrag geäußerten Ansichten geben die Meinung der Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.