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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Antisemitismus in Deutschland "Wir Juden sind nur das erste Ziel"
Ben Salomo beobachtet den aufsteigenden Antisemitismus in Deutschland seit Jahren. Im Gespräch mit t-online fällt der Rapper ein düsteres Urteil.
Der Nahostkrieg wird nicht nur in Israel ausgetragen, sondern führt auch in Deutschland zu Auseinandersetzungen. Landesweit gehen pro-palästinensische Anhänger und Anhängerinnen auf die Straße. In Berlin-Neukölln kommt es immer wieder zu verbotenen Demonstrationen und Auseinandersetzungen mit der Polizei.
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Der jüdische Rapper Ben Salomo ist nicht überrascht von den Entwicklungen. Er beobachtet den aufsteigenden Antisemitismus in Deutschland schon eine ganze Weile. Im Interview mit t-online spricht er über den Judenhass, der nie aufgearbeitet wurde. Und über den jüngsten Eklat um Autor Richard David Precht und Moderator Markus Lanz.
t-online: Wie geht es Ihnen gerade?
Ben Salomo: Ich bin einfach fassungslos. Genau wie viele Jüdinnen und Juden auch. Entsetzt sind wir aber nicht nur über diesen neuen Zivilisationsbruch der Hamas, sondern auch über die Reaktionen vieler Menschen hier in Deutschland. Auf der einen Seite gehen sie zu Tausenden für diese teuflische Terrororganisation auf die Straße und feiern die Hamas-Terroristen als Freiheitskämpfer.
Und auf der anderen Seite?
Da gibt es wieder dieses typische Schweigen, das Deutschland schon einmal in den Abgrund führte. Wir alle spüren diese Gleichgültigkeit in der deutschen Bevölkerung. Es ist ein Armutszeugnis. Es gibt uns Juden das Gefühl, als würden wir nur wenige Jahre vor etwas stehen, was einer Shoah nahekommt. Viele haben Angst.
Woher rührt dieses Schweigen?
Die Menschen schweigen seit dem Holocaust. Urgroßeltern und Großeltern sprachen nicht wirklich darüber, ob sie den Nationalsozialismus unterstützt haben. Sie hielten ihre Lügen und den Mythos aufrecht, dass sie gegen das Regime waren. Unter dieser Decke des Schweigens konnte sich der Antisemitismus in weiten Teilen der Gesellschaft halten. Die Aufarbeitung des Holocausts ist gescheitert.
Diese Ausreden und Entschuldigungen erinnern schon an eingeübte Rituale.
Ben Salomo über Richard David Precht und Markus Lanz
Sprich, wir müssen 80 Jahre Antisemitismus aufarbeiten?
Nicht nur das. Man muss vor allem die Akteure, die das Gift über Juden und Israel in der Gesellschaft verbreitet haben – zum Beispiel durch antisemitische Verschwörungslegenden, Verharmlosung der BDS-Bewegung, verzerrte Berichterstattung über Israel oder direkt durch Hamas-Propaganda – identifizieren und isolieren. Leider ist das Problem mittlerweile viel größer, weil wir jetzt die sozialen Netzwerke haben, die völlig unkontrolliert Antisemitismus und Propaganda verbreiten. Dadurch beschleunigt sich das gesamte Problem in so eine Art Turbolader.
Sieht man die Auswirkungen dieses Turboladers jetzt bei den Ausschreitungen in Neukölln?
Die Auswirkungen sind nicht nur in Neukölln, und es gibt sie auch nicht erst seit jetzt. Die Leute haben ein sehr kurzes Gedächtnis. Die Juden nicht. Die Angriffe auf Juden gibt es doch schon seit Jahrzehnten, und jetzt sagt man hier: "Huch, das habe ich gar nicht kommen sehen." Wenn man Antisemitismus-kritischen, jüdischen Stimmen nicht zuhört, kann man sich natürlich vorgaukeln, das sei jetzt alles sehr plötzlich. Man möchte hier lieber nur den "Israel-kritischen, jüdischen Stimmen" zuhören, die ein bestimmtes Narrativ bedienen. Das ist natürlich bequemer.
Wir haben jetzt den aktuellen Fall mit Markus Lanz und Richard David Precht. Was sagen Sie zu ihrer Entschuldigung?
Diese Ausreden und Entschuldigungen erinnern schon an eingeübte Rituale. Wenn man in einem reichweitenstarken Podcast solche Aussagen tätigt und die Hörer mit antisemitischen Aussagen toxisch auflädt, dann ist jede Entschuldigung, die danach kommt, wenig wert, sie kommt ja nur wegen der Empörung. Die Leute sollen einfach aufhören, so einen Humbug zu verbreiten. Das kann doch nicht so schwer sein.
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Wo könnte die aktuelle Situation hinführen?
Wenn Deutschland es nicht schafft, das Ruder in den nächsten Jahren herumzureißen, werden nicht nur Juden diesem Land den Rücken kehren, auch die Demokratie wird kollabieren. Denn diese Demokratie ist das, was eigentlich angegriffen wird. Wir Juden und der jüdische Staat sind nur das erste Ziel. Zu viele Menschen haben nach der Shoah mit sechs Millionen ermordeten Juden einfach nichts gelernt. Es zeigt: Es kann überall und jederzeit wieder passieren. Deswegen brauchen Juden einen eigenen Staat. Und diejenigen, die all die Jahre geschwiegen haben, als sich der Antisemitismus und der Terror ausgebreitet hat, sollen jetzt auch die Klappe halten, wenn sich Israel gegen den Judenhass und den Terror wehrt.
Fühlen Sie sich in Deutschland noch sicher?
Keine Jüdin und kein Jude fühlt sich in Deutschland aktuell wirklich sicher. Ich bin Nachfahre von Holocaust-Überlebenden. Und es sind die Nachfahren der Überlebenden, die einen sechsten Sinn entwickelt haben. Wir wissen, wann die Gesellschaft kippt. Wir spüren, dass es Zeit ist, irgendetwas zu tun, um zu überleben.
Ist es jetzt gekippt?
Es begann schon vor Jahren zu kippen. Jetzt fühlt es sich nach einer unumkehrbaren Situation an. Weil ich nicht sehe, dass in der deutschen Gesellschaft gehört wird, was von den warnenden Stimmen seit Jahren gesagt wird.
Steht für Sie im Raum, Deutschland zu verlassen?
Ja. Darüber sprechen viele Juden, ich kenne auch viele, die Deutschland schon verlassen haben. Vor allem Jüdinnen und Juden, die jung und ungebunden sind, wollen Deutschland in den nächsten fünf bis zehn Jahren den Rücken kehren. Viele Menschen, die ich kenne, sagen, dass sie sich kaum noch eine Zukunft für jüdisches Leben in Deutschland vorstellen können.
Was muss sich ändern, damit sich die Juden in Deutschland wieder sicher fühlen können?
Es müssen endlich Taten folgen. Deutschland muss endlich aufhören, Beziehungen zu Schurkenstaaten wie dem Iran zu pflegen. Deutschland muss aufhören, seine Gelder in Gebiete wie Palästina zu stecken – ohne absolut sicher zu sein, dass diese Millionen nicht für Terrororganisationen oder Propaganda genutzt werden.
Sie halten Vorträge an Schulen. Was muss sich dort ändern?
Die Geschichte Israels darf nicht lückenhaft vermittelt werden. Bei der Komplexität führen Lücken zu falschen Schlussfolgerungen. Zudem müssen Lehrer und Lehrerinnen schon im Studium verpflichtet sein, ihren Kenntnisstand über Antisemitismus gemäß der IHRA (International Holocaust Remembrance Alliance, Anm. d. Red.) zu erweitern. Nicht einmal über den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust wird ordentlich unterrichtet. Man lernt nicht wirklich, wie es dazu kommen konnte. Man lernt nur die Momentaufnahme zwischen 1933 und 1945. Doch was ist damals gesellschaftlich passiert? Wie wurde der Judenhass in die Gesellschaft hineingetragen und angereichert?
Treffen Sie in dieser aktuellen Lage spezielle Sicherheitsvorkehrungen?
Durch meine Arbeit gegen Extremismus und Antisemitismus und weil ich eine Person des öffentlichen Lebens bin, gelte ich seit Jahren als eine Schutzperson des deutschen Staatsschutzes. Es ist noch nicht so, dass ich permanenten Personenschutz brauche. Aber man kann nirgends herausfinden, wo ich wohne. Zudem wurde ich dazu angehalten, nicht nur in Berlin, sondern in allen großen Städten in Deutschland nicht mit dem öffentlichen Nahverkehr zu fahren. Die Bedrohung ist mittlerweile einfach zu groß.
Wie spüren Sie die erhöhte Bedrohung?
Ich habe bereits vor dem Überfall der Hamas drei bis fünf Drohungen in der Woche bekommen. Jetzt sind es viele Drohungen pro Tag. Größtenteils über die sozialen Netzwerke. Ich bringe sie zur Anzeige, aber ich komme mittlerweile gar nicht mehr hinterher und habe mir Hilfe bei einer Betroffenenstelle geholt. Das Dumme ist nur, dass sich viele davon nicht abschrecken lassen, weil die Strafen viel zu gering sind. Das muss sich auch drastisch ändern.
- Eigenes Interview mit Ben Salomo