Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Udo Lindenberg Sie haben ihm ein Denkmal gebaut
Wird Udo jetzt Weltkulturerbe? Quatsch. Ist er doch längst. Ein Kinofilm über den jungen Lindenberg zeigt, wie ein Knirps aus Westfalen zum Rocker der Nation wurde. Er erzählt aber auch viel über den Udo von heute. Und über uns.
Die großen Dinger haben es ihm angetan, immer schon. Eigentlich wollte er Kellner werden, auf Riesenschiffen über die Riesenweltmeere ziehen. Dann kam der Jazz dazwischen, das Schlagzeug, St. Pauli, Rock'n'Roll und Schnaps. Es ging drunter und drüber, irgendwann versank ein Dampfer im Atlantik, und plötzlich war es klar: Der Schiffbruch wurde zum großen Leitbild für Udo Lindenberg.
Das Gefühl, dass nach dem nächsten Herrengedeck ganz bestimmt der Weltuntergang kommt, dass man von jetzt auf gleich vom Barhocker fällt und tot sein kann, markierte Lindenbergs Durchbruch. "Alles klar auf der Andrea Doria", diese Hymne auf das bunte Treiben, kurz bevor alles zu spät ist, war der erste Riesenerfolg von Rockmusik mit deutschen Texten.
1973 war das. Und ein bisschen von diesem Lebensgefühl schmeckt man immer noch, auch wenn der Udo von heute seit Jahrzehnten gefangen ist in einer Silhouette aus zu engen schwarzen Hosen, zu großen schwarzen Sonnenbrillen und XL-Hutkrempe.
Wir benötigen Ihre Einwilligung, um den von unserer Redaktion eingebundenen Youtube-Inhalt anzuzeigen. Sie können diesen (und damit auch alle weiteren Youtube-Inhalte auf t-online.de) mit einem Klick anzeigen lassen und auch wieder deaktivieren.
Lindenberg hat sich selbst zur Karikatur gemacht, wortwörtlich, in seinen mit bunten Spirituosen gemalten Likörellen nämlich. Er gehört heute zum Inventar der Bundesrepublik und ist endlich auch auf ihren Traumschiffen unterwegs. Seit einigen Jahren gibt er auf Kreuzfahrten Konzerte mit dem Panikorchester und sorgt mit seinen Schlager-Rock für coole Stimmung an Bord. Alles klar, mit dem Panikpräsidenten am Ruder wird da bestimmt nichts mehr versenkt.
Aber jetzt kommt das nächste große Ding: Udo, das Biopic! Udo, das Musical – "Hinterm Horizont" heißt es –, gibt es schließlich schon. Der Spielfilm "Lindenberg! Mach dein Ding" erzählt nun davon, wie man den Mief der Nachkriegszeit wegrockt und sich dabei selbst zum Star macht.
Es geht um Lindenbergs Kindheit in Gronau in Westfalen, um die Kellnerlehre und den Hamburger Kiez, vor allem aber um die Zeit als Sessionmusiker (man kann ihn noch heute jeden Sonntagabend trommeln hören: in der „Tatort“-Titelmelodie) bis hin zum krampfhaft erzwungenen Erfolg. Es geht um den Udo vor dem Hut, vor der Brille, vor der dicken Nuschellippe und den Karikaturen. Um ein Gegenbild, das heute ein wenig verschüttet ist und das der echte Udo braucht wie eine Frischzellenkur.
Runterschlucken und rauswürgen
Gleich am Anfang schickt Regisseurin Hermine Huntgeburth ihren Udo in die Wüste. Anmutig wie eine Schnapspulle purzelt er dort von einer Sanddüne. In der nächsten Szene stürzt er, irre vor Lampenfieber und halsbrecherisch betrunken, von einem Bühnenaufbau. Erste Lektion: Um es ganz nach oben zu schaffen, musst du tief fallen. Das hat Lindenberg stellvertretend für seine Fans getan, und falls es manche vergessen haben sollten, hilft Huntgeburths Film der Erinnerung auf die Sprünge.
Lindenberg lebte seinen Traum für alle, die sich nicht trauten oder nicht konnten. Stellvertretend für die Schaumrebellen und Badewannenkapitäne soff er sich kaputt und ging dabei fast unter. Es kann dem heutigen Mythos Lindenberg bestimmt nicht schaden, wenn ein Film die wilden Jahre noch mal aufrollt, in denen ihn noch niemand für eine Legende und das Größte auf der Welt hielt. Außer er selbst natürlich.
Die Welt in "Lindenberg! Mach dein Ding" ist übersichtlich. Es gibt die alten Nazis und Kriegsgeschädigten, und es gibt die Hippies. Es gibt Schlager, und es gibt Rock'n'Roll. Der Generationenkonflikt spiegelt sich in popkulturellen Fronten: da die Runterschlucker, dort die Rauswürger. Und es gibt Udo, der beides macht. Ein Junge aus der Provinz, der es unbedingt schaffen will – was auch immer. Der genauso säuft wie sein Alter, aber eben auch auf alles kotzt und gegen jeden rebelliert.
Schauspieler Jan Bülow, 23 Jahre alt, spielt seinen Udo als jemanden, der nur von der eigenen Großartigkeit überzeugt ist und deswegen zu allem und jedem auf Konfrontationskurs geht. Gegen den Vater genauso wie gegen die besten Freunde in der Band. Mal hat er nur einen schäbigen Slip an, mal Schlaghose und Lederjacke, aber seine Anti-Haltung trägt Bülow in jedem Moment wie eine zweite Haut. Er ist die Sensation in diesem Film, der ansonsten eher Stangenware ist. Aber eben auch ein perfektes Vehikel, um den Mythos Lindenberg weiter zu zementieren.
Weltkulturudo – dafür braucht er keine Kampagnen
In Berlin wollen sich gerade die Verkehrsbetriebe zum Weltkulturerbe erklären lassen. Weil der M29 doch immer so verlässlich ausfällt und, wenn er doch mal kommt, der Busfahrer so ausnehmend freundlich auf Berliner Schnauze macht. Und Dr. Motte, einer der Erfinder der Love Parade, will einen gesetzlichen Techno-Feiertag im Gedenken an die 21 Toten der Katastrophe in Duisburg 2010 einführen und – Überraschung! – elektronische Clubmusik zum Weltkulturerbe erklären lassen.
Udo hat solche Kampagnen nicht nötig. Diverse Orden und Preise für sein Lebenswerk hat er schon bekommen, noch zu Lebzeiten wurden ihm Denkmäler errichtet. In Gronau steht eine Statue, am Geburtshaus hängt eine Plakette, Mellrichstadt hat eine Schule nach ihm benannt. Sogar einen prominenten Nachruf gab es schon. Er hieß „Wenn die Nachtigall verstummt“, Udo sang ihn auf sich selbst, zu seinem 70. Geburtstag vor bald vier Jahren. So viel Arbeit am eigenen Ich ist selbst bei Rockstars selten, in Deutschland ohne Beispiel. Aber sie macht sich bezahlt.
Wie verlässlich der Udo-Effekt noch wirkt, wurde erst Mitte November mit einer Politaffäre bestätigt, hochoffiziell sozusagen. Lindenberg war mit dem Bundesverdienstkreuz erster Klasse ausgezeichnet worden. Und dem Vorsitzenden des Rechtsausschusses im Deutschen Bundestag, dem AfD-Abgeordneten Stephan Brandner, fiel nichts Besseres ein, als Lindenberg in einem Tweet zu beschimpfen und die Verleihung des Ordens mit dem Hashtag #Judaslohn zu kommentieren. Unser Udo als Verräter der Nation? Ausgerechnet! Brandner hätte wissen müssen, dass er damit nicht durchkommt. Er wurde abgewählt.
Der Vorfall ist wie der letzte Beweis, dass Lindenberg zum guten Gewissen der Nation geworden ist. Immer zur Hand, wenn das Aroma des Rebellischen gefragt ist oder ein bisschen Selbstvergewisserung, wie wild wir doch mal waren und wie panikpräsidial wir immer noch drauf sind. Udo ist Konsens und Konstante und taucht sogar im Deutschrock nur mehr als historische Kulisse auf. In Reimen über Bananen zum Beispiel. In "Sommer 89", einem Lied über die Wende, singt die Hamburger Band Kettcar: "Sie kamen für Kiwis und Bananen/ Für Grundgesetz und freie Wahlen ... Sie kamen für Udo Lindenberg/ Kamen für Reisen um die Welt/ Für Hartz IV und Begrüßungsgeld."
Der Journalist und Autor Alexander Osang schrieb schon 1991, nicht lange nach der Wiedervereinigung, als die Sache mit der ersten Udo-Tour im Osten endlich Wirklichkeit geworden war: "Lindenberg ist eine Legende, der selbst Schrottsongs nichts anhaben können." Und das stimmt immer noch. Auch ein durchschnittlicher Film wird ihm nichts anhaben. Im Gegenteil. Das gibt noch mehr Beton für den Sockel seines Denkmals.
Der Film "Lindenberg! Mach dein Ding" ist ab dem heutigen Donnerstag in den Kinos zu sehen.
Über den Autor: Arno Raffeiner ist Kulturjournalist und lebt in Berlin. Er war bis 2018 Chefredakteur von "Spex – Magazin für Popkultur" und arbeitete zuvor für diverse Medien als Autor und Redakteur für Musik, Kino und Literatur. Er beschäftigt sich mit allen relevanten Themen quer durch den Kulturbereich und mit dem digitalen Alltag.