Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Der tiefe Fall einer Legende Zverev über Becker: "Ich wünsche ihm das Beste"
Boris Becker muss ins Gefängnis, das steht seit Freitag fest. Weggefährten sprechen bei t-online über einen Mann, der fast alles verloren hat. Über einen, dem Deutschland nie Zeit und Ruhe gab.
Alexander Zverev war da. Michael Stich war da. Tommy Haas ist noch da. Tennisfans können auf der Anlage "am Aumeister" bei den BMW Open in München dieser Tage neben den Matches beim ersten deutschen ATP-Turnier des Jahres einige aktuelle und ehemalige Größen ihres Sports auf dieser so stilvollen und kuschelig engen Klubanlage in der bayrischen Landeshauptstadt beobachten.
Doch während der Ausrichter, der Deutsche Tennis Bund, und die Fans das deutsche Tennis und sich selbst feiern, fehlt die mit Abstand bekannteste Persönlichkeit der Sportart anders als in vielen der vergangenen Jahre in München – Boris Becker. Stattdessen wird der 54-Jährige am frühen Freitagabend im Hauptsaal eins des Southwark Crown Court in London zu zweieinhalb Jahren Gefängnis wegen Insolvenzverschleppung verurteilt, von denen er mindestens die Hälfte absitzen muss.
Ein lange unterschätztes Szenario
Nach der Strafmaßverkündung von Richterin Deborah Taylor fällt Becker nach vorne und muss sich laut Gerichtsbeobachtern an der Anklagebank abstützen. Um 16.46 Uhr bindet er sich die Schuhe, greift seine Tasche und verlässt aufrecht und stoisch den Gerichtssaal in Richtung Sicherheitstrakt. Von dort aus wird er noch am Abend in ein Gefängnis gebracht.
Verabschieden von Sohn Noah und Lebensgefährtin Lilian de Carvalho Monteiro darf sich Becker nicht mehr. Der Tennisstar und sein Anwalt hatten lange auf Naivität, Unwissenheit, Druck und Beraterpech verwiesen und dieses für ihn schlimmste aller Szenarien unterschätzt und wohl nicht für möglich gehalten.
"Boris war und ist sehr wichtig für das deutsche Tennis. Das ist traurig zu hören. Ich wünsche ihm das Beste", äußerte sich Deutschlands Nummer eins, Alexander Zverev, am späten Freitagabend bei t-online zu der gegenüber Becker verhängten Strafe.
Seit März hatte sich der erfolgreichste deutsche Tennisspieler aller Zeiten drei Wochen lang in seiner Wahlheimat London im Prozess um eine mutmaßliche Insolvenzverschleppung verantworten müssen. Nachdem die Geschworenen ihn in vier der 24 Anklagepunkte für schuldig befunden hatten, vergingen weitere drei Wochen, bis die Richterin als Strafmaß eine Gefängnisstrafe aussprach.
Die Geschworenen waren zuvor zu der Ansicht gelangt, dass Becker den Besitz einer Immobilie in seinem Heimatort Leimen verschleiert, unerlaubterweise hohe Summen auf andere Konten überwiesen sowie Anteile an einer Firma für künstliche Intelligenz und eine Darlehensschuld verschwiegen hatte.
Verschleierte Summe in Millionenhöhe
Die Anklage ging zum Prozessauftakt von umgerechnet etwas mehr als fünf Millionen Euro aus, die Becker verschleiert, nicht gemeldet oder versteckt haben soll. Die vier Punkte, in denen die Jury Becker für schuldig befand, ergeben zusammengerechnet eine verschleierte Summe in Millionenhöhe. Die verstrichene Zeit bis hin zum Verfahren hat die Gläubiger weitere umgerechnet 2,7 Millionen Euro an Verwaltungskosten, Gerichtsgebühren und Anwaltshonoraren gekostet.
Insgesamt sollen sich Beckers Schulden bei den Gläubigern ohnehin auf rund 60 Millionen Euro belaufen. "Ich habe die Einwände, die für Sie vorgetragen wurden, in Betracht gezogen. Aber Sie machten persönlich Gebrauch vom Firmenkonto. Sie haben Eigentum unterschlagen, versteckt. So viel Geld ging verloren", erklärte die Richterin, die Becker außerdem übermittelte, er habe aus seiner Verurteilung 2002 nichts gelernt. Das Landgericht München verurteilte den Tennisstar damals wegen Steuerhinterziehung in Höhe von 1,7 Millionen Euro zu zwei Jahren Haft auf Bewährung.
Es wurden Geschäfte gemacht, von denen er profitierte
Sportlich war Becker bis zu seinem angekündigten Karriereende nach dem Achtelfinalaus in Wimbledon 1999 gegen Patrick Rafter über viele Zweifel erhaben gewesen. Er gewann bis dahin herausragende 49 Einzeltitel, darunter die in Deutschland viel beachteten sechs Grand-Slam-Titel und zwei Davis-Cup-Triumphe, die Ende der 80er einen ähnlichen Stellenwert hatten wie Erfolge der Fußball-Nationalmannschaft. Die Gesellschaft hatte "ihren Boris" 1985 quasi über Nacht adoptiert, als er im Alter von erst 17 Jahren als Außenseiter erst das Vorbereitungsevent in Queen’s und dann das historische Wimbledonturnier 1985 gewann.
Zeit und Ruhe, damit der Mensch zur Größe seiner Erfolge Anschluss finden und damit umzugehen vermochte, gab ihm in Deutschland alsbald niemand mehr. Stattdessen wurden große Geschäfte mit Becker gemacht, von denen er freilich profitierte. Spätestens als er 1991 zur Nummer eins der Weltrangliste aufsteigt, kennen Jubel und Einnahmen gleichermaßen keine Grenzen mehr.
Rund 25 Millionen Dollar verdiente Becker an Preisgeldern; bis zum Ende seiner Laufbahn verdiente er die gleiche Summe nochmal mit Sponsorengeldern. Puma, Mercedes, AOL und viele weitere Firmen lechzten während der aktiven Karriere und in der Übergangszeit nach der sportlichen Laufbahn nach dem Werbegesicht Boris Becker.
Ex-Trainer Bresnik: "Seit Jahren über seine Probleme gesprochen"
Ein natürliches und gesundes Hineinwachsen in die Rolle als finanzstarker Tennisstar hat es aber nie gegeben. Zwei Jahrzehnte Misswirtschaft durch Berater und eigene Fehler haben ihn handlungsunfähig werden lassen. Das Insolvenzverfahren lief bereits seit fast fünf Jahren und wurde auch auf der Profitour diskutiert. "Hinter vorgehaltener Hand wurde im Tenniszirkus natürlich schon seit Jahren über seine Probleme gesprochen", verrät Beckers ehemaliger Coach Günter Bresnik t-online.
Der 61-jährige Österreicher hat Dominic Thiem geformt und betreut 2022 Gael Monfils. Mit Becker reiste Bresnik von den US Open 1992 bis zu den French Open 1993 und fühlt mit seinem ehemaligen Schützling. Er sagt: "Ein Wirtschaftsvergehen muss immer irgendwie geahndet werden und ich möchte bei Boris auch keine besonderen Maßstäbe ansetzen. Aber was er für Deutschland geleistet hat, lässt sich mit Steuer- und Geldschulden nur schwer vergleichen."
Kein schlechtes Wort über Boris
Eine Gefängnisstrafe für Wirtschaftsvergehen sei für ihn immer unerklärlich im Vergleich dazu, wie andere Verbrechen zum Teil sanktioniert würden. "Ich kenne Uli Hoeneß nicht persönlich, aber da war mir die Art von Bestrafung auch nicht verständlich. Ein gutes Handling mit Geld und Steuerzahlungen sind notwendig und geben der Gesellschaft viel zurück. Aber Menschen wie Hoeneß und Boris haben ebenfalls sehr viel Gutes getan für die Gesellschaft." Bresnik erklärt, er habe sich von Becker damals im Guten getrennt und er habe seitdem kein schlechtes Wort über Boris verloren. "Das werde ich auch jetzt nicht tun."
In der Tennisfamilie war und ist Becker ein geschätzter Gesprächspartner. Im privaten Bereich beging er dagegen zu viele Fehler. Die Scheidung von Barbara Becker nach einem folgenschweren und öffentlich ausgeschlachteten Seitensprung kostete ihn Anfang des Jahrtausends laut "Bild"-Zeitung rund 15 Millionen Euro.
Hans-Dieter Cleven, der ehemalige Manager des Handelsriesen Metro, organisierte zu dieser Zeit Beckers Geschäfte aus dem Schweizer Steuerparadies Zug in der Beteiligung "Boris Becker & Co.". Doch auch der gewiefte Geschäftsmann vermochte nicht, Becker zu nachhaltig wirtschaftlichem Erfolg zu verhelfen. Heute ist Cleven einer von Beckers größten Gläubigern: Es folgten ein Minusgeschäft mit einem Internetportal, fehlgeschlagene Beteiligungen an drei Mercedes-Autohäusern und schlecht bewertete TV-Formate. Ernst genommen wurde Becker erst wieder, als Novak Djokovic ihn 2013 als Trainer verpflichtete. Unter ihm gewann der Serbe erstmals die French Open.
Dann folgte die Zeit beim DTB, wegen der der Verband geschlossen hinter Becker steht. Präsident Dietloff von Arnim erklärt am Freitag auf einer Pressekonferenz bei den BMW Open Stunden vor der Urteilsverkündung: "Wir stehen da, würde ich sagen, treu an der Seite unserer Tennisikone."
Der Verband hat sich in den vergangenen Jahren bei sportlichem Misserfolg (Angelique Kerber) oder privaten Verfehlungen (Alexander Zverev) immer vor seine Sportler gestellt. Diese zahlen es mit engagierten Einsätzen in der Nationalmannschaft zurück. Becker hat bis 2020 als eine Art übergreifender Sportdirektor im deutschen Herrentennis auch für normale Beobachter sehr gute Arbeit abgeliefert – nicht nur als Unterstützung bei den Profis im Davis Cup sondern auch im Nachwuchsbereich.
Dementsprechend gebe es der Aussage des Präsidenten nichts hinzuzufügen, sagt Vizepräsident Dirk Hordorff zu t-online. Er sagt: "Das Urteil ist für Boris Becker natürlich ein Schock."
"Wir stehen hinter Boris Becker, der über Jahrzehnte Außerordentliches für das deutsche Tennis geleistet hat als Spieler und später in seiner Funktion als "Head of men‘s Tennis" bei uns im Verband. Wir hoffen daher, dass wir ihn bald wieder in unserem Kreis begrüßen dürfen", erklärt Hordorff.
Kohlmann denkt an Beckers Familie
Beckers Nachfolger, der langjährige Davis-Cup-Kapitän Michael Kohlmann, denkt an Beckers Familie: "Ich bedauere sehr, dass Boris Becker ins Gefängnis gehen muss und hoffe sehr, dass er, seine Kinder und Familie diese schwierige Zeit gut überstehen werden", so Kohlmann zu t-online. Barbara Rittner, die nicht nur für die deutschen Damen im DTB zuständig ist, sondern auch als Expertin beim TV-Sender Eurosport regelmäßig an Beckers Seite arbeitete, erklärt: "Ich wünsche ihm ganz viel Kraft und Unterstützung seiner Familie und Freunde."
Eurosport selbst antwortete am späten Freitagabend auf t-online-Anfrage: "Boris Becker ist ein außergewöhnlicher Tennisexperte, der mit seinen Analysen und Einblicken Millionen von Tennisfans weltweit begeistert. Wir haben das heutige Urteil zur Kenntnis genommen, bitten aber um Verständnis, dass wir dieses nicht weiter kommentieren."
Fakt ist: Becker kann aufgrund seiner Haftstrafe für mindestens ein Jahr und drei Monate keiner Arbeit nachgehen. Er könnte aber auch eine Revision erwägen. Anwalt Burkhard Benecken erklärt in der Bild: "Natürlich kann Boris Becker dieses Urteil angreifen, doch es dauert mehrere Monate, bis es zum Verfahren kommt. Aber wenn er weiter den Unschuldigen macht, hat er keine Chance. Er hat nur mit Reue, mit einem Schuldeingeständnis, eine Chance auf Bewährung. Er muss sagen, dass er Fehler gemacht hat. Denn das gab es noch nicht."
- Eigene Recherche