Fernab von Raum und Zeit "Bom Jesus": Das wahre Wunder Brasiliens
Aus Santo André (Brasilien) berichtet Thomas Tamberg
Der Mann von der Presseagentur strahlt. "Hier erlebe ich immer den schönsten Moment des Tages". Mit "hier" meint er "Bom Jesus". So heißt die alte, verrostete, dieselgetriebene Fähre. Sie trennt die deutsche Nationalmannschaft von den Normalsterblichen. Jeden Morgen müssen rund 200 Journalisten mit ihr über das Flußdelta des Joao da Tiba übersetzen, der an dieser Stelle in den Atlantik mündet, um zu den täglichen Pressekonferenzen des DFB im Naturschutzgebiet Santo André zu kommen.
"Bom Jesus" wird geliebt und gefürchtet gleichermaßen. Wer sich auf ihr befindet, ist fernab von Raum und Zeit. Egal wie früh man sich auf den Weg macht: Ob man pünktlich im Campo Bahia ist, liegt nicht mehr in eigener Hand. Wer sich "Bom Jesus" ausliefert, spürt einen Stoß von Freiheit, wer sich verweigert, wird Brasilien wohl niemals verstehen. Auf jeden Fall wird "Bom Jesus" auch noch in 20 Jahren an jedem Lagefeuer dieser Welt für eine tolle Anekdote gut sein.
Ein großartiges Geschenk
Böse Zungen behaupten, dass die Nationalmannschaft ihr Quartier vor allem aus dem Grund im Campo Bahia aufgeschlagen hat, weil eben diese Fähre eine noch größere Abschottung gewährleistet. Das mag sein und doch ist sie ein großartiges Geschenk.
Nichts bringt einem die berühmte brasilianische Gelassenheit näher als "Bom Jesus". Ob man will oder nicht: Man muss sich mit "Bom Jesus" auseinandersetzen. Man kann es eilig haben, man kann am Rad drehen, man kann auch einen Handstand machen. Allein es bringt nichts. Die Welt kann untergehen, auf der Fähre ist man zur Tatenlosigkeit verurteilt. Eigentlich kein gutes Gefühl für Nachrichtenjunkies.
Zehn außergewöhnliche Minuten
Keiner kann sagen wie lange er am nächsten Tag für seinen Weg vom Hotel zur Nationalmannschaft braucht. Es kann 45 Minuten dauern, es können auch 90 Minuten werden. "Bom Jesus" gibt den Takt vor und "Bom Jesus" entscheidet jeden Tag aufs Neue.
Je nachdem wie viele Autos gerade übersetzen wollen, ob mächtige und platzeinnehmende Lastwagen darunter sind oder die tägliche Polizeieskorte eilig wieder rüber muss, all das entscheidet über die Dauer der Anreise. Einzig die Überfahrt ist immer gleichlang. Ist besonders viel los, kommt mit dem kleinen Bruder von "Bom Jesus" eine zweite Fähre zum Einsatz. Rund zehn Minuten braucht man, um von einer Anlegestelle zur anderen zu kommen.
Fußball interessiert plötzlich niemanden
In dieser Zeit treffen Journalisten jeden Tag aufs Neue in stets unterschiedlichen Konstellationen aufeinander und merkwürdigerweise wird dann nur selten über Fußball gesprochen. Die Schulter von Manuel Neuer oder das Rätselraten um die Startaufstellung gegen Portugal ist in diesen Augenblicken so weit weg wie die Heimat.
Wenn "Bom Jesus" vorbeizieht an bunten Holzschiffen, gestrandeten Schiffswracks, einzigartiger Vegetation, sich die Sonne im Wasser spiegelt und der Blick frei wird auf die kleine Kirche an der Klippe, dann entwickeln sich plötzlich Gespräche mit bis dato fremden Kollegen, die man so in keinem Presseraum der Welt führen würde. Andere wiederum halten inne und genießen still.
Nüsschen vom Straßenrand
In der hashtaggetriebenen Zeit von Twitter, Whatsapp, Breaking News und Co. versetzt "Bom Jesus" die Mitfahrer zurück in eine längst vergangene Zeit. Erst die Ankunft reißt einen wieder mit einem Schlag aus seiner Gedanken-Wellness. Jeder steigt in sein Auto und der tägliche Wahnsinn nimmt seinen Lauf.
Doch es bleibt die kleine Vorfreude auf den Rückweg. Nach getaner Arbeit fühlt dieser sich sogar noch ein bisschen entspannter an. Dann gönnt man sich zur Feier des Tages ein paar Nüsschen vom wartenden Straßenhändler oder ein völlig überteuertes Bier. Doch was bedeutet schon Geld in diesem Zusammenhang. Schließlich wartet "Bom Jesus" und wird einen gleich zu seiner inneren Mitte führen. Unbezahlbar!