Von Osthessen zum Zuckerhut WM-Neuling Shkodran Mustafi lebt seinen Traum
"Der sagt mir nicht viel." So kommentierte Philipp Lahm die erste Nominierung von Shkodran Mustafi für die deutsche A-Nationalmannschaft vor drei Monaten. Der unbekannte Neuling reagierte gelassen. Mustafi konnte "Lahm nicht böse sein, denn normalerweise schaut ein erfolgreicher Spieler nach oben, nicht nach unten", sagte er im Interview mit t-online.de. Inzwischen kennen sich beide besser. Im Campo Bahia in Brasilien bereitet sich Mustafi mit dem DFB-Team auf die WM 2014 vor. Für viele Fans gilt aber nach wie vor: "Der sagt mir nicht viel."
Eigentlich würde der 22-Jährige jetzt womöglich im Mittelmeer planschen. "Ich hatte einen Ibiza-Urlaub mit Freunden geplant", verriet er gegenüber "Sport1". Doch nach dem Ausfall von Marco Reus holte ihn Bundestrainer Joachim Löw als Nachrücker an Bord.
Statt Insel-Urlaub also WM-Endrunde an der Copacabana. "Es war schwer, dies alles zu realisieren", sagte Mustafi in einem Interview auf der DFB-Homepage. "Irgendwie ist alles verschwommen, wie in einem Traum."
Schon früh ein "Wolf"
Beim Abflug gen Brasilien hatte er das breiteste Grinsen aller Nationalspieler. Wenige Stunden zuvor weilte er noch bei seiner Familie im heimischen Osthessen, wo seine Fußballer-Karriere begann. Bereits bei seinem ersten Verein, dem 1. FV Bebra, stach der gebürtige Bad Hersfelder heraus.
"Er war schon in der D-Jugend ein außergewöhnlicher Spieler, der nicht verlieren konnte", erinnerte sich sein ehemaliger Coach Uwe Urbantzki im hr-Fernsehen: "Er war der Wolf, der die Jungs angeführt hat, der Kopf der ganzen Mannschaft." Nach der Zwischenstation SV Rotenburg wurden Bundesliga-Klubs auf ihn aufmerksam, angeblich sogar der FC Bayern München. Sein Weg führte ihn aber in den Norden.
U17-Europameister mit Götze und ter Stegen
Im Alter von 14 Jahren ging der gelernte Stürmer zum Hamburger SV. Im dortigen Fußballinternat wurde er zum Defensivspieler umgeschult und trainierte unter Coach Martin Jol bei den Profis mit. In dieser Zeit wurde auch der DFB auf den Sohn albanischer Eltern aufmerksam. "Donny", wie ihn Freunde nennen, durchlief alle Jugend-Nationalmannschaften von der U16 bis zur U21.
Bei der U17-EM 2009 gewann der gläubige Moslem gemeinsam mit Talenten wie Mario Götze oder Marc-André ter Stegen den Titel. Auf den Durchbruch musste er aber länger warten als seine prominenten Mitspieler von damals. Da ihm beim HSV die Perspektive fehlte, wagte Mustafi als 17-Jähriger den Sprung ins Ausland und heuerte beim FC Everton an.
Englische Härte und italienische Taktik
In der Premier League traf er sein Vorbild als Verteidiger. "Ich bewunderte Rio Ferdinand sehr und tue dies bis heute", erklärte er dem Statistik-Portal "WhoScored". Auf der Insel entwickelte sich Mustafi vor allem körperlich weiter. "Hier wird schneller Fußball mit vielen Zweikämpfen gespielt. Du musst extrem fit und stark sein."
Der Sprung zu den Profis blieb ihm aber verwehrt. Im Januar 2012 ließ er sich daher in die zweite italienische Liga transferieren. Bei Sampdoria Genua ergatterte er schließlich einen Stammplatz, stieg in die Serie A auf und erhielt den taktischen Feinschliff. "Für mich macht er in der Defensive bei Sampdoria den Unterschied, er ist der Eckpunkt in der Abwehr", lobte ihn unlängst Lazio-Stürmer und Nationalmannschaftskollege Miroslav Klose.
Noch lange nicht zufrieden
Die Spielweise in Genua ähnelte zuletzt der des DFB-Teams. Lange Bälle der Verteidiger waren verpönt. Mustafi leitete das Spiel mit klugen Pässen ein und fungierte als erster Aufbauspieler. Das kommt bei Löw ebenso gut an wie die Vielseitigkeit seiner neuen Nummer 21.
Dreier- und Viererkette, Innen- und Außenverteidigung, Mustafi hat es bereits gespielt. Bei seinem Länderspieldebüt im Mai gegen Polen blieb er innen. Er gewann über 70 Prozent seiner Zweikämpfe und brachte rund 95 Prozent seiner Pässe zum Mitspieler. Außerdem sammelte er die meisten Ballkontakte aller deutschen Spieler. Letzteres wird sich bei der WM nicht wiederholen, doch als "weitere Option für die Defensive" des Bundestrainers darf sich Mustafi berechtigte Hoffnung auf Einsatzzeit machen.
In jedem Fall ist er hungrig, was er schon vor fünf Jahren im Gespräch mit "transfermarkt.de" bewies: "Wer die Champions League gewonnen hat, eine Weltmeisterschaft mit der A-Nationalmannschaft und Weltfußballer geworden ist, der darf sagen, dass er zufrieden mit sich ist. Vorher nicht." Einen ersten Schritt zur Zufriedenheit kann er nun in Brasilien machen.