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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Erste EM seit neun Jahren Niederlande-Coach de Boer: Unser Ziel ist der Titel
Die Niederlande hat nach zwei verpassten Turnieren einiges gutzumachen. Dennoch strotzt "Oranje" vor der EM vor Selbstbewusstsein, wie Coach Frank de Boer t-online deutlich macht.
Wie lang die Durstrecke der Niederlande bei einer Europameisterschaft bereits anhält, lässt sich mit einem gern bemühten Vergleich greifbarer machen: Im deutschen Nachbarland sind Kinder im vergangenen Sommer auf die weiterführenden Schulen geschickt worden, die noch nie einen EM-Sieg der "Elftal" miterlebt haben. 13 Jahre ist der 2:0-Erfolg im letzten Gruppenspiel gegen Rumänien in Bern her. Eine für die so stolze Fußballnation des dreifachen Vizeweltmeisters und Europameisters von 1988 schier unendliche Zeitspanne.
Seitdem ist viel passiert: EM-Vorrundenaus 2012 ohne einen einzigen Punkt, verpasste EM 2016 und WM 2018, dazwischen WM-Bronze 2014 unter Ex-Bayern-Trainer Louis van Gaal.
"Oranje" stand seit der Zeit von Rinus Michels und Johan Cruyff für Konstanz und Kontinuität, für den teamorientierten, mannschaftsdienlichen Offensivfußball des "Totaal Voetbal", die 4-3-3-Grundformation der "Elftal" war felsenfester Bestandteil der nationalen Identität. Die unstete Ära der 2010er-Jahre ließ die Grundfesten des niederländischen Fußballs jedoch ins Wanken geraten. Ronald Koeman war der Mutige, der das baufällige Konstrukt letztendlich einriss.
"Oranje" muss Ausfall von Kapitän van Dijk kompensieren
Direkt mit seinem Amtsbeginn im Frühjahr 2018 wagte es Koeman das 4-3-3 einzumotten und gegen ein 3-5-2/5-3-2-System auszutauschen. Die niederländische Fußballöffentlichkeit war erzürnt, sogar Cruyffs Sohn Jordi äußerte seinen Unmut. Doch Koemans Paradigmenwechsel sollte Früchte tragen, auch wenn er sie nicht mehr selbst ernten werden wird. Im August 2020 warb ihn sein Ex-Klub FC Barcelona ab, Frank de Boer übernahm als "Bondscoach".
Der 51-jährige Ex-Nationalspieler fand ein gefestigtes Team vor, das mit dem Nations-League-Finaleinzug 2019 den ersten Achtungserfolg verbuchen konnte. Das Prunkstück der Niederländer dabei: die Innenverteidigung um Inter Mailands Stefan de Vrij, Top-Talent Matthijs de Ligt (Juventus Turin) und Kapitän Virgil van Dijk (FC Liverpool). Doch ausgerechnet Letzterer, Europas Fußballer des Jahres 2019, wird die Europameisterschaft wegen eines Kreuzbandrisses verpassen.
Die Abstinenz van Dijks zwingt de Boer dazu, die Führung des Teams auf neue Schultern zu schnallen. Diese Aufgabe wird zuvorderst Georginio Wijnaldum gelten. Der Mittelfeldstratege, der Klopps FC Liverpool nach fünf überaus erfolgreichen Jahren ablösefrei verlässt, wird bei der EM die Kapitänsbinde der "Elftal" tragen. Der 30-Jährige soll jedoch nicht der einzige Spieler mit Einfluss aufs Team bleiben. "Memphis Depay ist ein weiterer, ebenso Matthijs de Ligt, der mit 19 Jahren bereits Kapitän von Ajax Amsterdam war, aber auch Stefan de Vrij und Daley Blind, die beide sehr erfahren sind", sollen auf und neben dem Platz federführend Verantwortung übernehmen, erklärt de Boer t-online.
de Boer: Belgien, Frankreich und Spanien die Titelfavoriten
Die Erwartungen an die Europameisterschaft schmälert der Ausfall von Schlüsselspieler van Dijk in den Niederlanden zumindest nicht. "Wenn wir gut spielen, können wir jeden schlagen. Ich denke, wir können um den Titel mitspielen", sagt de Boer.
Zu den Titelfavoriten zählt er seine "Elftal" dann doch nicht. "Meiner Meinung nach sind die Favoriten Belgien, Frankreich und Spanien", so der "Bondscoach", "hinter ihnen folgen dann eine Handvoll Länder, die sich auf einem ähnlichen Level bewegen: Deutschland, Italien, England, Portugal, und auch wir selbst."
Trotz zweier verpasster Großturniere und der 13-jährigen Siegesdurstrecke bei einer EM, betont de Boer noch einmal: "Unser Ziel ist, natürlich, das Turnier zu gewinnen. Das muss immer das Ziel sein." Aber: "Ich bin Realist, und deshalb sage ich: Das Erreichen des Halbfinals wäre für uns ein tolles Ergebnis."
Wolfsburgs Weghorst muss um Startelf-Platz zittern
Einer, der dazu beitragen will, das ausgerufene Ziel zu erreichen, ist Wout Weghorst. Der Wolfsburger Torjäger hat es in den finalen EM-Kader der Niederlande geschafft. Einen Startplatz im Zweierangriff an der Seite des als gesetzt geltenden Memphis Depay (25 Treffer in 63 Länderspielen) dürfte er trotz 29 Torbeteiligungen in 34 Bundesliga-Partien (20 Treffer, neun Assists) dennoch nicht haben. "Wir haben viele gute Spieler in unserem Kader, alle mit ihren ganz eigenen Qualitäten", gibt sich de Boer bedeckt. Weitere Kandidaten für die Spitze sind der Ex-Gladbacher Luuk de Jong und Eindhovens 22-jähriges Sturmtalent Donyell Malen.
"Wir haben da eine wirklich gute Generation zusammen", fasst de Boer die Stärke seines Kaders zusammen. Besonders die Geschlossenheit der Mannschaft imponiert dem Ex-Profi von Ajax Amsterdam und dem FC Barcelona: "Wir geben niemals auf und haben schon einige Spiele nach einem 0:1- oder 0:2-Rückstand drehen können."
Es könnte eben diese Willensstärke sein, die aus dem Titelanwärter am Ende sogar den Europameister Niederlande macht.
- Eigene Recherche und Beobachtungen
- Korrespondenz mit dem Niederländischen Fußballverband KNVB