Fußball Strand-Jogger Löw und DFB-Elf müssen liefern
Sotschi (dpa) - Wende oder Ende? Auf einer kurzen Jogging-Runde am Morgen mit Ausblick auf das malerische WM-Stadion von Sotschi ist Joachim Löw womöglich der taktische und personelle Geistesblitz für den dringend benötigten Befreiungsschlag bei der WM gekommen.
Das "Wir-werden-das-schaffen"-Versprechen muss auch der Bundestrainer gegen die robusten Schweden mit Taten bestätigen. Vize-Kapitän Sami Khedira wählte eine besonders drastische Kampfansage: "Das hat Deutschland immer stark gemacht, die Mentalität von elf Kriegern. Die müssen wir wieder reinbekommen." Geht's wieder schief wie beim 0:1 gegen Mexiko, dürfte der Weltmeister ansonsten schon nach dem zweiten Spiel in Russland krachend gescheitert sein.
Der immense Druck auf Trainer und Spieler könnte sich kurz vor dem Anpfiff am Samstag (20.00 Uhr MESZ) noch weiter erhöhen. Nämlich dann, wenn die Mexikaner in ihrer zweiten Partie gegen Südkorea erneut punkten sollten. Dann würde eine Niederlage gegen die robusten Schweden bereits das historische Vorrunden-Aus besiegeln. Ein Alptraum, der im DFB ein Beben auslösen würde - mit allen denkbaren Konsequenzen, auch für den bis zum WM-Start in Russland unantastbaren Löw. Die Coaching-Leistung des Langzeit-Bundestrainers gegen Mexiko war so schlecht wie die Darbietung seiner Weltmeister auf dem Rasen.
Im Olympia-Ort Sotschi stehen Ruf und Zukunft aller auf dem Spiel. Löw hat tagelang geschwiegen. Das Reden überließ er Manager Oliver Bierhoff ("Das wird kein Hurraspiel"), Stürmercoach Miroslav Klose ("Jeder muss jetzt liefern") und vor allem seinen Spielern. Die haben miteinander Klartext gesprochen, Besserung gelobt. Und sie setzen auf Jogis Rettungsplan. "Der Trainer ist sich des Ganzen bewusst", bemerkte Mats Hummels. "Übertriebene Panik" strahle Löw nicht aus. "Er weiß, worauf es ankommt, er weiß, dass er sich auch hoffentlich auf seine Spieler verlassen kann", ergänzte der Münchner.
Welcher Elf vertraut Löw? Und in welchem taktischen System? Das sind die Schlüsselfragen. Deutschlands WM-Spezialist Klose erklärte das erste K.o.-Spiel vor allem zur Charakterfrage. Löws Assistent erwartet von seinen 2014-Weltmeister-Kollegen wie Hummels, Khedira, Kroos, Müller oder Özil ein Zeichen, die Turnierwende zu erzwingen. "Ich mag die ganzen Ausreden nicht: Rasen zu hoch, Schieri schlecht, Sonne zu tief. Auf dem Platz ist das Entscheidende. Ich bin immer vorgegangen. Aus wie vielen Löchern bin denn ich herausgekrabbelt! Wir haben doch die Leute, die den Charakter haben, vornewegzugehen."
Besonders gefordert ist jetzt ein Mann wie Trophäen-Sammler Toni Kroos, der gegen Mexiko im Zentrum abtauchte und nur wenig über Löws Joggingtempo hinauskam. "Es ist bei gestandenen Spielern so", sagte WM-Rekordtorschütze Klose nicht nur auf Kroos bezogen: "Du musst halt in den Spielen dann auch liefern. Jeder muss jetzt liefern!"
Klar ist: Die Schweden mit dem Leipziger Offensivmann Emil Forsberg werden berechenbarer agieren als die flinken Mexikaner, die Löw und das deutsche Team taktisch überrumpelten. "Es gibt viele Gefahren. Gegen Schweden wird es die Kunst sein, von Anfang an Druck zu machen, aber auch nicht ungeduldig zu werden", erklärte Hummels: "Ein Unentschieden ist nicht in unserem Sinne, weil es wahrscheinlich gleichbedeutend mit einem Ausscheiden ist." Löw hat aus den Trainingseinheiten in Sotschi hoffentlich die richtigen Schlüsse gezogen - gerade auch für die Personalauswahl.
"Es geht um die Mannschaftsleistung. Kein Einzelner kann das alleine beheben", betonte Khedira. Der Routinier weiß, dass auch er ein Wackelkandidat ist. "Schweden spielt einen anderen Fußball. Dafür braucht man vielleicht auch anderes Personal", sagte der 31-Jährige. Er könnte im Mittelfeld durch Ilkay Gündogan oder Leon Goretzka ersetzt werden. Der von einem Infekt genesene Jonas Hector wird wieder links anstelle von Marvin Plattenhardt verteidigen.
Auch offensiv muss sich mehr tun nach nur vier Treffern in den fünf Länderspielen 2018. "Wir brauchen Läufe in die Tiefe und Spieler, die diese Wege machen und Löcher für andere freilaufen", sagte Klose. Das klang verdächtig nach der Hereinnahme von Marco Reus, dem Festhalten an Thomas Müller und nicht zwingend nach einem Stürmerwechsel Mario Gomez für Timo Werner. Das Ziel heißt planvolles Angreifen ohne Verlust der Stabilität. "Gegen Mexiko sind wir alle mit dem Ball losgestürmt", erinnerte Gomez. Defensiv herrschte Chaos.
Fazit: Im 108. WM-Spiel der deutschen Nationalmannschaft wird über den Fortbestand oder das abrupte Ende einer Goldenen Generation entschieden. Kapitän Manuel Neuer wählte beinahe Löws Worte für den unerwartet frühen ersten K.o.-Kampf in Russland. "Wir glauben und wissen, dass wir es schaffen können", sagte der Torwart. Ende oder Wende? Auflösung Samstagabend, kurz vor 22.00 Uhr deutscher Zeit.