Selbe Grundidee, neue Nuancen Warum der FC Barcelona unter Luis Enrique wieder strahlt
Aus Barcelona berichtet Florian Haupt
62 Prozent Ballbesitz, 91 Prozent erfolgreiche Pässe: Wer die identischen Statistiken des FC Barcelona und des FC Bayern in dieser Champions-League-Saison betrachtet, könnte tatsächlich zu dem Schluss kommen, dass in diesem Halbfinale das Original auf den Klon trifft. Oder der Klon auf das Original. Denn ob nun Bayern mehr Barca ist, weil es von Pep Guardiola trainiert wird, oder Barca immer noch mehr Guardiola, das ist ja noch mal eine eigene Frage. Vielleicht aber auch eher eine von akademischer Natur.
Sagen wir also, dass sich im Camp Nou (ab 20.30 Uhr im Live-Ticker bei t-online.de) zwei Exponate derselben Grundidee treffen, die einst Johan Cruyff von Ajax Amsterdam zu Barcelona exportierte und die auf den Prinzipien beruht, die man in Barcelona als die "drei P" bezeichnet: "Presión, Posesión, Posición": Pressing, Ballbesitz und Positionsspiel. Dafür gab es nach Cruyff noch einen zweiten wesentlichen Impulsgeber aus den Niederlanden, einen der ebenfalls Barcelona trainierte und später die Bayern – Louis van Gaal.
"Guardiola bleibt die Nummer eins"
Unter ihm spielten Guardiola und sein Nach-Nach-Nachfolger Luis Enrique einst gemeinsam für Barcelona. Später absolvierten sie parallel die Trainerausbildung beim spanischen Fußballverband. Sie fingen 2005 als Praktikanten gemeinsam an, im Nachwuchsbereich ihres Herzensklubs zu trainieren, und als Guardiola 2008 zum Trainer der ersten Mannschaft befördert wurde, ersetzte ihn Luis Enrique bei der zweiten.
"Für mich bleibt Pep Guardiola die Nummer Eins", sagte Luis Enrique noch vor der Halbfinalauslosung, als Bayerns Viertelfinal-Hinspielniederlage in Porto seinen alten Weggefährten in Bedrängnis brachte. "Weil er mein Freund ist, für das, was er repräsentiert, und für seine Idee von offensivem Fußball."
Fighter trifft auf Ästhet
Zu Ende ist die Geschichte damit allerdings noch nicht, denn bei dem ab Freitag 45-jährigen Asturianer und dem acht Monate jüngeren Katalanen handelt es sich durchaus um unterschiedliche Charaktere. Idealtypisch ausgedrückt war Luis Enrique immer ein Fighter und Guardiola immer ein Ästhet.
Und so unterscheidet sich auch ihr Zugang zum Spiel: Guardiola strebt nach Perfektion, für Luis Enrique darf es auch mal herzhafter zugehen. Zum Beispiel animiert er seine Spieler, es entgegen der Tradition des Hauses mit Distanzschüssen zu probieren: "Eine sehr interessante Option gegen Teams, die sich hinten reinstellen: Der Ball kann abgefälscht werden und so im Tor landen."
Über weite Strecken der Saison hat er das Publikum mit seinen pragmatischen Nuancen eher irritiert. Bis Weihnachten punktete Barcelona zwar ordentlich, brillierte aber selten, und die großen Spiele wie in der Champions-League-Gruppenphase bei Paris St. Germain oder in der Liga bei Real Madrid gingen verloren. Guardiola war einer der wenigen, der Luis Enrique dennoch vertraute: "Wartet ab, er wird triumphieren", sagte er bei einem Barcelona-Besuch im November und warnte schon damals: "Ich hoffe, ihm nicht in der Champions League begegnen zu müssen."
Wende statt Ende
Die Wende kam just, als dem Trainer schon das Ende prophezeit wurde, weil sich er und Lionel Messi in einer "Er-oder-Ich-Situation" gegenüber zu stehen schienen. Barcelona hatte das erste Spiel im neuen Jahr in San Sebastian verloren, da Luis Enrique seinen Star sowie Neymar wegen deren verlängerten Weihnachtsurlaub aus dem Team rotiert hatte. Messi schwänzte ein Training, die Krise führte zur Entlassung von Sportdirektor Andoni Zubizarreta und zur Ausrufung einer Neuwahl des Präsidenten am Saisonende – aber Luis Enrique blieb. Und beim nächsten Heimspiel gegen Atletico Madrid ging plötzlich eine Energie von dieser Elf aus, die man in Camp Nou jahrelang nicht mehr gespürt hatte.
Das vielleicht gefährlichste Sturmtrio der Fußballgeschichte
3:1 siegte Barcelona, es war die lang ersehnte Befreiung, der erste große Abend unter Luis Enrique und der Auftakt einer Serie von mittlerweile 26 Siegen aus den letzten 28 Spielen, darunter zwei weiteren gegen Atletico im Pokal, einem gegen Real Madrid in der Liga und jeweils zweien gegen Manchester City und Paris St. Germain in der Champions League. Nichts sollte sich für die nächsten Wochen so programmatisch erweisen wie die Torschützen dieses Januarabends: Neymar erzielte das 1:0, Luis Suarez das 2:0, Messi das 3:1. Neymar, Suarez, Messi: das vielleicht gefährlichste Sturmtrio der Fußballgeschichte. Das Herzstück des Post-Guardiola-Barcelona.
Anfangs noch überschattet von den Streitereien im Klub und der Funkstille mit dem Trainer entwickelte sich zwischen den drei südamerikanischen Ausnahmefußballern eine spezielle Beziehung: auf wie neben dem Platz. Inzwischen harmonieren sie so traumwandlerisch, dass sie zusammen schon 108 Tore erzielt haben. Und mögen sich so sehr, dass sie gemeinsame Fotos in den sozialen Netzwerken posten oder Messi beim jüngsten 8:0-Sieg in Cordoba die Ausführung eines Elfmeters an Neymar weiterreichte. Obwohl er sich gerade das übliche Fernduell mit Cristiano Ronaldo um die Spitze der Torjägerliste Spaniens (und Europas) liefert. 40:42 steht es derzeit.
Keine Rotation im Angriff
Seiner Glückseligkeit kann dieser leichte Rückstand nichts anhaben. Messi wird nie der beste Kumpel von Luis Enrique werden, aber er schätzt die Spielphilosophie des Trainers, die letztlich auf der Prämisse basiert, den Ball möglichst häufig und in möglichst gefährlichen Situationen zu seinem Ausnahmetrio zu befördern. Wo Guardiola die vielleicht ikonischste Partie seiner Barca-Zeit, das Klub-WM-Finale 2011 gegen Santos, in einer Art 3-7-0 ohne echte Stürmer bestritt, sind die drei Angreifer bei Luis Enrique unverhandelbar. Anders als in allen anderen Mannschaftsteilen rotiert der Trainer im Angriff nie. Messi und – nach einer weiteren Beschwerde vor ein paar Wochen in Sevilla – auch Neymar werden nicht mal mehr ausgewechselt.
Bessere Bilanz als Guardiola
Es gibt weitere Faktoren für Barcas Rückkehr unter die absoluten Topteams Europas. Die Rotationen und eine harte Vorbereitung haben den Kader in perfekte körperliche Verfassung gebracht. Das Pressing funktioniert so gut wie seit Guardiolas Zeiten nicht mehr und auf Basis der positiven Gesamtdynamik schienen zuletzt auch die Feinheiten des klassischen Barcelona-Fußballs wieder öfters durch: eine bisweilen geometrische Präzision im Positionsspiel und ein Ballbesitz, der in manchen Partien an die 80 Prozent reicht. Unter dem Strich hat Luis Enrique mit 45 Siegen aus 53 Spielen sogar eine bessere Bilanz als Guardiola in seinem Debütjahr vorzuweisen – bis zu diesem Punkt.
Denn Guardiola brachte den Job auch zu Ende und gewann gleich auf Anhieb das Triple. Dem aktuellen Barca fehlen dazu noch sieben Spiele, doch vorerst scheint es, als habe Luis Enrique geschafft, woran auch Guardiola in manchen Phasen immer mal wieder tüftelte – das Repertoire der Mannschaft gewinnbringend zu erweitern. Und bisweilen auch mal mit schnödem Konterfußball zu gewinnen.