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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Vierte Corona-Welle "Harter Lockdown und Schulen dicht – nur das hilft"
Die Corona-Situation insbesondere in Sachsen ist dramatisch. Die Inzidenz überschritt erneut eine Höchstmarke – trotz des derzeitigen "Wellenbrecher-Lockdowns". Ein Epidemiologe rechnet vor, was jetzt die Optionen sind.
Professor Markus Scholz von der Universität Leipzig ist ein vorsichtiger Mann. Seit Beginn der Pandemie beobachtet er mit seinem Team das Infektionsgeschehen und berechnet Szenarien. Was ist? Was wird sein? Scholz betont, dass er daraus keine Forderungen ableiten kann und will. Er liefere nur Zahlen und Modelle, die einen Blick in die Zukunft gewähren.
Was er sagt, ist eindringlich: "Wenn die Politik jetzt noch etwas reißen will, dann muss sie schnell handeln: Harter Lockdown und Schulen dicht – nur das kann noch helfen."
Vier Prozent der Sachsen haben sich vergangene Woche infiziert
Der aktuelle "Wellenbrecher-Lockdown", davon ist Scholz überzeugt, wird die Infektionen jedenfalls nicht entscheidend nach unten bringen. Der Blick in die Vergangenheit verdeutlicht, was er meint: Im Herbst 2020 ging Deutschland bei niedrigerer Inzidenz in einen schärferen Lockdown: "Und es dauerte acht Wochen, bis die Zahlen sanken."
Donnerstag übersprang die Wocheninzidenz in Sachsen erstmals die 1.000er-Marke. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen. Scholz schätzt, dass sie den offiziellen Wert derzeit um etwa das Vierfache übersteigt. Das hieße: Innerhalb einer Woche hätten sich vier Prozent der Sachsen das Virus eingefangen. Das wären rund 160.000 Neuinfizierte, die jetzt gerade dabei sind, Corona im Freistaat noch weiter zu verbreiten.
Viele unerkannte Übertragungen bei hoher Inzidenz
"Bei so einer Lage gibt es viele unerkannte Übertragungen", sagt Scholz. "Die Gegenmaßnahmen sind ineffizienter. Massentests in Schulen funktionieren, wenn die Inzidenz niedriger ist. Jetzt erleben wir viele Klassenausbrüche, Familienmitglieder werden angesteckt. Quarantäne für die ganze Klasse gibt es trotzdem erst, wenn sich mehrere Schüler infiziert haben."
Dabei scheint der sächsische "Wellenbrecher-Lockdown" auf den ersten Blick mit recht harten Maßnahmen aufzuwarten: Ungeimpfte dürfen in Hochinzidenzgebieten (mittlerweile sind das neun von 13 Kreisen) nachts nicht mehr vor die Tür. Sie sind vom Shopping ausgeschlossen und haben harte Kontaktbeschränkungen auferlegt bekommen.
Aber, sagt Scholz: "Der private Bereich ist schwer zu kontrollieren."
5.000 weitere Tote – wenn alles so bleibt, wie es ist
Seine Rechnung, wenn alles so bleibt, wie es derzeit ist: "Das Verbot von Großveranstaltungen wird den R-Wert im optimalen Fall auf 0,8 drücken. Bis sich die Infektionszahlen halbieren, würde es 15 Tage dauern. Wir kämen nur langsam von den hohen Zahlen runter."
Zwar seien ab etwa Mitte Dezember spürbare Durchseuchungseffekte zu erwarten, weil schon so viele Sachsen unerkannt eine Infektion durchlaufen hätten. Scholz geht von insgesamt 30 Prozent der Menschen seit Pandemiebeginn aus. Wegen der geringen Impfquote trifft das Virus allerdings immer noch auf viele Ungeschützte, die von schweren Verläufen bedroht sind.
Scholz: "Wenn jetzt gleichzeitig die Booster-Kampagne zündet und sich die allgemeine Impfquote um zehn Prozentpunkte erhöht, gehen mein Team und ich von 2.500 weiteren Corona-Toten in Sachsen aus. Wenn das nicht gelingt, eher von 5.000. Leider sieht es im Augenblick eher schlecht aus. Um an eine Impfung zu kommen, braucht es derzeit großes persönliches Organisationstalent. Für die besonders gefährdete Altersgruppe über 70 ist das nicht gut."
Offene Schulen sind ein wesentlicher Pandemietreiber
Um die Zahl der noch zu erwartenden Toten deutlich zu senken, sei daher eine Effizienzsteigerung bei der Impfkampagne und ein klarer Fokus auf die älteren Menschen erforderlich, deren Impfschutz besonders schnell nachlässt.
Und außerdem: "Bis jetzt ist der gesamte Schul- und Jugendbereich von den Maßnahmen ausgeklammert geblieben. Obwohl gerade da die Infektionszahlen besonders hoch sind. Wir reden seit einem Jahr über Luftfilter, aber die fehlen immer noch fast flächendeckend."
Angesichts dessen müsse man jetzt die Weihnachtsferien vorziehen und auf Präsenzunterricht verzichten, um noch etwas zu erreichen: "Ich finde Schulschließungen auch nicht gut – aber bleiben sie offen, dann behält man einen wesentlichen Pandemietreiber."
"Man hätte vor der Welle eingreifen müssen"
Würde gleichzeitig konsequent Homeoffice zum Zuge kommen, könnte der R-Wert auf 0,6 bis 0,7 fallen, nimmt Scholz an. Das würde eine schnellere Reduktion der Zahlen zur Folge haben, bei 0,7 eine Halbierung innerhalb einer Woche.
"Wenn sich die Politik dazu entscheidet, könnten noch viele Menschenleben gerettet werden", sagt Scholz. "Aber es ist schon sehr spät. Um Corona wirklich wirkungsvoll einzudämmen, hätte man vor der Welle eingreifen müssen."
- Gespräch mit Professor Markus Scholz