"Vorrücken und einpfeffern. Schlagartig" 16-Jähriger erschossen – Funksprüche offenbaren neue Details
Fünf Beamte sollen sich vor Gericht verantworten, weil ein 16-Jähriger durch Polizeikugeln starb. Die Anklageschrift offenbart neue Details.
Mitte Februar war bekannt geworden, dass die Staatsanwaltschaft Dortmund fünf Polizisten angeklagt hat. Am schwersten wiegt die Anklage gegen einen 29 Jahre alten Beamten, der mit einer Maschinenpistole auf den 16-jährigen Flüchtling Mouhamed Dramé schoss.
Nun hat die "Welt" neue Details aus der Anklageschrift veröffentlicht. Demnach ist der Einsatz, der am 8. August 2022 tödlich endete, völlig aus dem Ruder gelaufen.
Jugendlicher wog nur 57 Kilo
Gerufen worden war die Polizei um 16.27 Uhr in die Jugendhilfeeinrichtung St. Elisabeth. Mouhamed Dramé hatte bereits am Tag zuvor Suizidgedanken geäußert, jetzt kauerte der 1,60 Meter kleine und nur 57 Kilogramm schwere Jugendliche mit einem Messer im Innenhof der Einrichtung und presste es an sich.
Wie die "Welt" schreibt, eilten zwölf Beamte zum Einsatzort. Zwei in Zivil versuchten Kontakt aufzunehmen, doch Dramé reagierte nicht – wohl auch, weil er auf Spanisch und Deutsch angesprochen wurde, diese Sprachen aber nicht beherrschte.
Pfefferspray rann Mouhamed Dramé übers Gesicht
Dann habe Einsatzleiter H. mehrfach die Anweisung erteilt, Pfefferspray einzusetzen: "Vorrücken und einpfeffern. Das volle Programm. Die ganze Flasche", zitiert die "Welt" aus Funksprüchen. Und wenige Sekunden später: "Ich wiederhole: Vorrücken. Schlagartig. Und den Mann einpfeffern! Das volle Programm aus der großen Flasche!"
Eine Beamtin habe daraufhin sechs Sekunden lang Pfefferspray gesprüht. Zeugen zufolge sei es so viel gewesen, dass die Flüssigkeit dem Jugendlichen über den Kopf rann. Dramé habe sich mit der Hand über das Gesicht gewischt und sei aufgestanden.
Kugeln trafen in Oberschenkel, Bauch, Schulter, Gesicht und Arm
Mit dem Messer in der Hand habe sich Dramé laut Anklage wenige Meter bewegt, dann hätten zwei Beamte mit Tasern geschossen. Ein Schuss habe mit beiden Pfeilelektroden getroffen und so einen geschlossenen Stromkreis erzeugt.
Doch schon fast im selben Moment, laut Anklage binnen weniger als einer Sekunde, drückte der Beamte mit der Maschinenpistole ab. Innerhalb von 1,8 Sekunden feuerte er sechsmal, Kugeln trafen den Teenager in Oberschenkel, Bauch, Schulter, Gesicht und Unterarm.
Staatsanwalt: "Er wollte offensichtlich aus der Situation heraus"
Die Staatsanwaltschaft ist laut "Welt" überzeugt: Der Jugendliche, der von Mitarbeitern der Jugendeinrichtung als in sich gekehrt und alles andere als aggressiv beschrieben wurde, wollte die Polizisten nicht angreifen. "Er wollte offensichtlich aus der Situation heraus", zitiert die Zeitung Oberstaatsanwalt Carsten Dombert. Um als akute Bedrohung zu gelten, reiche es nicht, ein Messer lediglich in der Hand zu halten.
Schon zuvor hatte Oberstaatsanwalt Dombert gesagt: "Wir haben keine Notwehr- oder Nothilfelage seitens der Polizisten feststellen können." Und: "Der Jugendliche war alleine im Innenhof. Er saß teilnahmslos mit dem Rücken an der Mauer und hatte den Kopf gesenkt. Drei Seiten des Hofs sind von Mauern begrenzt, an der vierten Seite standen Polizisten. Der 16-Jährige stellte also keine Gefahr dar."
Fünf Dortmunder Polizisten angeklagt
Bereits der Einsatz von Pfefferspray sei unverhältnismäßig gewesen: "Die Lage war statisch. Der Jugendliche saß da und tat nichts." Die Polizei hätte zunächst einen Psychologen und einen geeigneten Dolmetscher anfordern müssen.
Nun muss sich der 54 Jahre alten Dienstgruppenleiter wegen Anstiftung zur Körperverletzung im Amt verantworten. Zwei Polizistinnen (28 und 31) und einem Polizisten (32) wird wegen des Einsatzes von Reizgas beziehungsweise Tasern gefährliche Körperverletzung im Amt vorgeworfen. Und der Todesschütze ist wegen Totschlags angeklagt.
Hinweis: Hier finden Sie sofort und anonym Hilfe, falls Sie viel über den eigenen Tod nachdenken oder sich um einen Mitmenschen sorgen.
- welt.de: "'Vorrücken und einpfeffern. Das volle Programm. Die ganze Flasche!'"
- presseportal.de: Mitteilung vom "Westfalen-Blatt" vom 2. September 2022 nach einem Interview mit Oberstaatsanwalt Dombert
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa