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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Menschenhandel im Norden Was sie eint, ist die Scham
Geschlagen, gedemütigt, eingesperrt: Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution leiden oft jahrelang, und es gibt sie auch in Bremen. Ein Verein kämpft dagegen.
Sie haben meist nichts. Keinen Ausweis, kein Geld, kein Dach über dem Kopf. Mit dem, was sie tragen können, kommen sie nach Deutschland, erhoffen sich hier ein besseres Leben, als es ihnen ihre Heimat geben kann. Was sie jedoch tatsächlich erwartet, sind Gewalt und Ausbeutung. "Moderne Sklaverei" nennt es Janina W., die eigentlich anders heißt. Aus Gründen des Informantenschutzes hat t-online ihren Namen geändert. Sie arbeitet seit etwas mehr als zwei Jahren bei der Beratungsstelle für Betroffene von Menschenhandel und Zwangsprostitution (BBMeZ) der Inneren Mission in Bremen.
Auch ihr Alter, ihre Herkunft, geschweige denn ein Foto – all das möchte Janina nicht veröffentlicht wissen. Zu groß sei ihre Angst vor Repressalien der Menschen, die hinter dem organisierten Menschenhandel im Land Bremen stecken. Im Gespräch mit t-online macht sie gleich zu Beginn deutlich: "Die Täter reden nicht viel. Sie tun, was sie sagen. Wenn die sagen, ich töte deine Familie, dann töten sie deine Familie." Das komme zwar selten vor, aber auch vor anderen Gewalttaten würden die Kriminellen nicht zurückschrecken.
In zahlreichen Gesprächen hat sich Janina von den Martyrien der Betroffenen berichten lassen, sagt sie. Es sind Schicksale, wie es sie tausendfach in Deutschland gibt. Die Länder, aus denen die jungen Frauen, Männer und auch Kinder kommen, sind unterschiedlich. Das Alter variiert, auch die familiären Hintergründe. Was die Schicksale jedoch oft eint, so Janina: Ohne Hilfe von außen schaffen es die wenigsten.
Digitalisierung verändert vieles
Ins Detail könne Janina, die gelernte Sozialarbeiterin ist, nicht gehen. Jede noch so kleine Information könnte für die Betroffenen, aber auch für sie zur Gefahr werden. Das, was sie sagen könne, ist jedoch: "Menschenhandel passiert überall." Als sich das BBMeZ 2002 gründete, mussten die jungen Frauen und Männer noch vorrangig auf dem Straßenstrich, in sogenannten Laufhäusern oder Großbordellen anschaffen gehen. Doch die Lage habe sich grundlegend geändert.
Das Geschäft habe sich zusehends in Privatwohnungen verlagert. Nicht nur die Corona-Pandemie habe diese Entwicklung begünstigt, auch die fortschreitende Digitalisierung. Zu diesem Schluss kommt auch das Bundeskriminalamt (BKA) in seinem "Bundeslagebild 2021 – Menschenhandel und Ausbeutung".
Doch wie kommen die Opfer überhaupt nach Deutschland? Auch dazu liefert das Lagebild Erkenntnisse. Unter anderem heißt es dort, dass immer mehr Opfer über das Internet gelockt würden. Beliebt bei organisierten Kriminellen sei zum Beispiel die Loverboy-Methode, bei der meist aus dem Ausland agierende Männer sich das Vertrauen von Frauen und Mädchen erschleichen. Sie schenken ihnen Aufmerksamkeit und Zuneigung, häufig gibt es Geschenke. "Gleichzeitig machen sie die Opfer emotional abhängig und entfremden sie ihrem Verwandten- und Bekanntenkreis. Später verleiten oder zwingen sie sie zur Prostitution", so das BKA.
Aber auch über Model- und Castingagenturen erfolge die erste Kontaktaufnahme. Laut Bundeskriminalamt mache die digitale Rekrutierung mittlerweile mehr als 13 Prozent aller Fälle aus und rangiere somit an dritter Stelle bei Anwerbungen. "Das Internet ist zum Hilfsmittel für die Tatdurchführung im Bereich des Menschenhandels geworden, und Informations- und Kommunikationstechnologien haben das Geschäft für Menschenhändler*innen deutlich verbessert und vereinfacht", heißt es dazu in einer Studie der Bundesweiten Koordinierungsstelle gegen Menschenhandel e. V. (KOK) aus Berlin.
Viele Betroffene erleiden "unvorstellbare Gewalt"
Dabei gebe es für die Täter verschiedene Wege, an ihre Opfer zu gelangen. Zentral ist in den meisten Fällen: Die Betroffenen befinden sich in einer hilflosen Lage, sagt Janina im Gespräch mit t-online. Ob finanziell, emotional oder sozial – die Täter versprächen ihnen genau das, was sie nicht haben. Das könne Sicherheit sein, ein "besseres Leben im Ausland", aber auch das Gefühl, eine Familie um sich zu wissen.
In vielen Fällen, so Janina, würden Frauen auch freiwillig als Sexarbeiterinnen nach Deutschland kommen. Kurz danach stelle sich jedoch heraus, dass sie weder frei über ihre Arbeitszeit noch über die Wahl der Freier entscheiden könnten. Vielen von ihnen würden eingesperrt, verprügelt und wirtschaftlich abhängig gemacht. Janina spricht in diesem Zusammenhang von "unvorstellbarer Gewalt", die die Betroffenen über sich ergehen lassen müssten.
Da vielen der Betroffenen die Pässe abgenommen würden, sie die Landessprache nicht beherrschten und auch kaum über die Rechtslage Bescheid wüssten, ergäben sich die meisten Opfer stillschweigend ihrem Schicksal. Und das nicht selten über viele Jahre.
Dunkelziffer "viel höher"
Meist sei es schlicht die Scham, die Betroffene daran hindere, eine Anzeige zu erstatten, berichtet Janina. Die Frauen und Männer würden massiv unter Druck gesetzt, bedroht und geschlagen. Den Weg zu den Ermittlungsbehörden gehen nur die wenigsten. Das zeigen auch die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik im Land Bremen (Bremen und Bremerhaven).
Der Verein für Innere Mission in Bremen
1849 ins Leben gerufen, arbeiten mittlerweile 461 festangestellte Menschen beim Verein für Innere Mission in Bremen (Stand Februar 2023). Hinzu kommen 450 Ehrenamtliche, die zum Teil eigene Projekte in Eigenverantwortung leiten. Zudem beschäftigen die jeweiligen Tochtergesellschaften "Mission:Lebenshaus" und "Mission:Ambulant" noch einmal zusammen 176 Angestellte. Gegliedert ist die Arbeit in sechs große Abteilungen: Beschäftigung, Flucht und Migration, Psychosoziale Hilfen, Wohnungslosenhilfe sowie Kinder- und Jugendhilfe. Daneben zählt der Bereich Beratung zu einem zentralen Aufgabengebiet des Vereins. Daran angegliedert: das BBMeZ. Gegründet wurde die Beratungsstelle im Jahr 2002, seit 2016 finden Betroffene Hilfe an der Straße Am Brill 2-4. Übergeordneter Träger ist die Diakonie sowie die Bremische Evangelische Kirche (BEK).
In den Jahren 2017 bis 2021 wurden insgesamt 61 Fälle von Menschenhandel, Zwangsprostitution und Zwangsarbeit bei der Polizei zur Anzeige gebracht. 45 von diesen wurden laut Statistik aufgeklärt, was eine Quote von etwas mehr als 73 Prozent ergibt.
Eine solide Zahl, könnte man meinen, doch Sozialarbeiterin Janina geht indes von einer "viel höheren Dunkelziffer" aus. Allein im vergangenen Jahr seien in ihrer Beratungsstelle "30 bis 40 akute Fälle" gelandet. Für Thomas Tscheu, Leiter des BBMeZ, lassen sich die geringen, offiziellen, Fallzahlen auch dadurch erklären, dass es "eben ein riesiger Unterschied ist, eine Anzeige zu erstatten und letztlich auch eine Aussage zu machen".
Behördengänge und Vermittlungen von Anwälten
Zwischen Anzeige und Aussage lägen häufig Wochen oder Monate – eine Zeitspanne, in der die Täter Gelegenheit hätten, Druck auf die Betroffenen auszuüben und sie von einer Aussage abzubringen, sagt Janina.
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An diesem Punkt setzt auch ein zentraler Aspekt der Arbeit der Beratungsstelle an: Bis zu einer Aussage bei der Polizei oder einem Gerichtsprozess begleiten die Experten die Opfer, beraten sie in rechtlichen Angelegenheiten und vermitteln einen Anwalt. Daneben werden die Betroffenen psychologisch betreut. Bei akuten Fällen werden die Frauen und Männer in streng geheimen Schutzwohnungen untergebracht.
Die Organisation von medizinischer Hilfe gehört ebenso zu den Aufgaben des Vereins wie die Organisation von Rückflügen in die jeweiligen Heimatländer. Zudem helfe Janina bei Behördengängen, aber auch bei Anträgen für finanzielle Unterstützung.
Zahl der minderjährigen Opfer steigt
"Wir kämpfen und setzen uns durch", sagt Janina. Keine Frau, kein Mann werde allein gelassen, auch wenn das an die Substanz gehe. Denn: Zurzeit muss Janina die Beratung allein stemmen. Zwei von insgesamt drei Stellen sind momentan unbesetzt, die Innere Mission sei auf der Suche nach Festangestellten. Die Ausschreibungen laufen, sagt Thomas Tscheu.
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Bei all den Schicksalen, die Janina mitbekomme, treibe sie immer wieder eines an: "Sobald die Betroffenen an dem Punkt sind, dass sie merken, da gibt es noch was anderes als die Sexarbeit, geht es aufwärts." Frauen, die häufig unter schwersten Traumata leiden, dann aber wieder eine Perspektive sehen – genau das sei ermutigend und tröstlich. Für viele werde Janina in der langen Phase der Beratung und Betreuung "wie eine Mutter", sagt sie – und weint. "Auch mir geht das oft sehr nah", doch aufgeben komme für sie nicht infrage.
Wie bereits erwähnt, hat sich nach Einschätzung vieler Fachleute die Lage im Deliktsfeld Menschenhandel in vielen Bereichen grundlegend verändert. Auch konkret in Bremen und im Umland seien die Veränderungen spürbar. Zum einen sei die Zahl der Minderjährigen gestiegen, die in die Zwangsprostitution getrieben werden, zum anderen würden auch die sexuellen Praktiken "immer brutaler". Konkrete Hotspots würden sich in Bremen nach Einschätzung von Janina mittlerweile in der Bremer Neustadt und in den Stadtteilen Gröpelingen und Walle finden. Das Alter der meisten Betroffenen liege zwischen 16 und 24 Jahren, häufig stammten sie Bulgarien, Rumänien, aus Ländern Westafrikas und Vietnam.
Wegschauen dürfe niemand
Im Gegensatz zur legalen Sexarbeit, bei der die Frauen und Männer unter anderem offiziell beim Gewerbeamt angemeldet sind, einen sogenannten Huren-Pass besitzen, medizinisch versorgt werden, ihre Freier selbst wählen können und ein gesichertes Gehalt bekommen, gelte all das nicht in der Zwangsprostitution. Sex ohne Kondom sei die Regel, die Betroffenen müssten sich meist "jeglichen Praktiken beugen", hätten keine Wahl und kein Mitsprachrecht.
Für einen Monat bekämen sie 200, manchmal auch 400 Euro zum Leben. Für die meisten sei das im ersten Augenblick viel, setze man es in Relation zu den Löhnen in ihren Heimatländern, sagt Janina im Gespräch mit t-online. Doch dafür müssten sie aber auch "unvorstellbare Gewalt" ertragen, würden als Reinigungskräfte an Familien verkauft, zum Betteln auf der Straße gezwungen oder würden Opfer organisierter Organentnahme. Auch das sei Teil des organisierten Menschenhandels.
"Sklaverei gab es früher und gibt es heute – überall", so Janinas Fazit, blickt sie auf die Jahre ihrer bisherigen Tätigkeit zurück. Wegschauen dürfe niemand, "das Thema geht uns alle an". Deshalb rate sie auch jeder und jedem, bei Verdachtsmomenten des Menschenhandels die Betroffenen ruhig und diskret anzusprechen, Hilfe anzubieten und auch die Polizei oder den Rettungsdienst zu rufen. Auch sei es möglich, einen Verdacht den jeweiligen Kommissariaten zu melden. In Bremen ist das Kommissariat 44 für sogenannte Spezielle Strukturdelikte zuständig, in Bremerhaven das Kommissariat 22.
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Auch wenn das BBMeZ mittlerweile sehr gut mit Ermittlungsbehörden, Ämtern und politischen Entscheidungsträgern vernetzt sei und regelmäßig der "Runde Tisch Menschenhandel" stattfinde, brauche es weiter die Unterstützung von außen, sagen die Verantwortlichen der Inneren Mission. Denn, das betont Janina: "Menschenhandel findet überall statt." Wer wegschaue, mache sich mitschuldig.
- Gespräch mit Beraterin beim BBMeZ
- bka.de: Bundeslagebild 2021 – Menschenhandel und Ausbeutung (PDF)
- bka.de: Loverboy-Methode
- Polizeiliche Kriminalstatistik Land Bremen 2017 (PDF)
- Polizeiliche Kriminalstatistik Land Bremen 2018 (PDF)
- Polizeiliche Kriminalstatistik Land Bremen 2019 (PDF)
- Polizeiliche Kriminalstatistik Land Bremen 2020 (PDF)
- Polizeiliche Kriminalstatistik Land Bremen 2021 (PDF)
- gesetze-im-internet.de: Strafgesetzbuch (StGB) § 232 Menschenhandel
- mission-freedom.de: Statistik zu Zwangsprostitution – Rechtliche Lage
- Organigramm Polizei Bremen (Stand 2016, PDF)
- kok-gegen-menschenhandel.de: Menschenhandel 2.0 – Digitalisierung des Menschenhandels in Deutschland (PDF)
- inneremission-bremen.de: Beratung
- Eigene Recherche