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Berlin in Angst: Charité-Psychiater warnt vor gefährlicher Entwicklung


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Unsicherheitsgefühl in Berlin
"Wir laufen Gefahr, in Pessimismus zu verfallen"

InterviewVon Kristina Sirjanow

27.09.2024Lesedauer: 4 Min.
Gefahren in Berlin (Symbolbild): Ist es in der Hauptstadt wirklich gefährlich?Vergrößern des Bildes
Gefahren in Berlin (Symbolbild): Ist es in der Hauptstadt wirklich gefährlich? (Quelle: Getty Images / Montage t-online)

Laut einer Umfrage von t-online haben fast 80 Prozent der Berliner ein ausgeprägtes Unsicherheitsgefühl. Der Berliner Psychiater Andreas Heinz erklärt, wie es zu dieser Wahrnehmung kommen kann.

Gewalt, Drogendelikte, Raub, Sachbeschädigung, Clan-Kriminalität – in Berlin hat die Polizei täglich alle Hände voll zu tun. In den Fokus der Aufmerksamkeit rücken seit ein paar Wochen vor allem Messerstechereien, an denen immer mehr Kinder und Jugendliche beteiligt sind.

Medienberichte über Kriminalität, aber auch persönliche Erfahrungen, verwahrloste Gegenden, sichtbare Armut und mangelnde Polizeipräsenz sind Faktoren, die in Berlin zu einem Gefühl der Unsicherheit führen können.

Eine nicht repräsentative Umfrage von t-online (Stand: 27. September, 15 Uhr) ergab, dass sich mittlerweile fast 80 Prozent der Berliner in ihrer Stadt nicht sicher fühlen. Andreas Heinz ist Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité. Im Interview mit t-online erklärt der Mediziner, woher diese Verunsicherung kommt, was die Corona-Pandemie damit zu tun hat und warum es wichtig ist, als Gesellschaft optimistisch zu bleiben.

t-online: Professor Heinz, viele Menschen fühlen sich in Berlin offenbar unsicher – zu Recht?

Andreas Heinz: Angst ist ein sehr subjektives Empfinden. Derzeit gibt es einen Anstieg der Angriffe mit Messern, der viel Besorgnis auslöst. Auch andere Gewalttaten haben seit dem Ende der Corona-Beschränkungen zugenommen. Andererseits sind die Tötungsraten in Deutschland und in einer Großstadt wie Berlin im internationalen Vergleich sehr niedrig. Das Problem: Während der Corona-Lockdowns gab es einen Rückgang von Gewaltdelikten, die nehmen jetzt insgesamt wieder auf das vorige Niveau zu. Diese Zahlen und Kriminalstatistiken werden in den Medien oft nicht genau genug behandelt und eingeordnet.

Können Zahlen dabei helfen, das Gefühl der Unsicherheit zu verringern?

Zahlen und Kriminalstatistiken stellen einen rationalen Bezug zur Realität her und geben Aufschluss über die tatsächliche Bedrohungslage. Bei Ängsten kann ein umfassenderer Überblick über die relevanten Fakten und Risiken helfen.

Wie würden Sie dann den tatsächlichen Anstieg der Messerangriffe interpretieren, ohne Angst zu verbreiten?

Durch brutale Anschläge wie in Solingen gibt es derzeit eine starke Fokussierung auf das Problem der Kriminalität bei Menschen mit Migrations- oder Fluchtgeschichte und der damit verbundenen Gewalt. Je drängender ein Thema erscheint, desto genauer werden meistens die diesbezüglichen Taten auch zur Anzeige gebracht und damit erfasst. Gewalttaten gehen weltweit in der Regel von Männern aus. Gerade bei jungen Menschen spielen auch Armut und andere ungünstige Bedingungen eine Rolle, wenn sie gewalttätig werden. Und je mehr Menschen um einen herum bewaffnet sind, desto eher wird man sich selbst bewaffnen. Und damit steigt leider das Risiko, dass es zu weiteren Gewalttaten mit Messern und anderen Waffen kommt.


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Die Menschen haben oft das Gefühl, dass etwas nicht mehr so ist wie früher und dass sich etwas ändern muss.


Andreas Heinz


Warum scheinen die Menschen in Deutschland heute ängstlicher und unsicherer zu sein als noch vor einigen Jahren?

Meine subjektive Wahrnehmung ist, dass die Ängste der Menschen seit der Corona-Pandemie größer geworden sind. Die Menschen waren lange Zeit voneinander isoliert. Jetzt scheint die Stimmung angespannt zu sein, viele gehen genervt miteinander um. Das merke ich täglich in den öffentlichen Verkehrsmitteln in Berlin. Zudem fühlen sich viele Bevölkerungsgruppen bedroht, auch antisemitische und rassistische Gewalttaten nahmen zuletzt zu. Die Menschen haben oft das Gefühl, dass etwas nicht mehr so ist wie früher und dass sich etwas ändern muss. Dazu kommen Geldsorgen, die Sorge vor dem Klimawandel oder die Sorge vor der Zuwanderung von Menschen, denen heutzutage oft viel Misstrauen entgegenschlägt.

Dann haben die Menschen seit der Corona-Pandemie nicht mehr richtig zueinander gefunden?

Die Art und Weise, wie Menschen zusammenkommen, hat sich seit Corona verändert. Vieles, was man früher in Treffpunkten wie Clubs oder Kneipen miteinander ausgehandelt hat, wird heute im Internet ganz anders und oft viel aufgeregter und polarisierender verhandelt – auch weil viele dieser Treffpunkte schließen.

Andreas Heinz
(Quelle: Imago)

Zur Person

Andreas Heinz ist Psychiater und tiefenpsychologischer Psychotherapeut. Seit 2002 ist er Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité Berlin. Darüber hinaus ist Heinz in verschiedenen wissenschaftlichen Gesellschaften aktiv. Unter anderem war er Präsident der Deutschen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie und der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Er ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen und Herausgeber eines Lehrbuchs zur interkulturellen Psychiatrie und Psychotherapie.

Inwieweit sind soziale Medien und das Internet für die Zunahme von Ängsten und Unsicherheitsgefühlen verantwortlich?

Als der Buchdruck erfunden wurde, war das am zweithäufigsten gedruckte Buch nach der Bibel der Hexenhammer, ein Handbuch zur Erkennung, Verfolgung und Bestrafung von Hexen. Damals wurde ein völlig neues Medium genutzt, um falsche Informationen zu verbreiten und ein Gefühl der Bedrohung zu erzeugen, das viele Frauen das Leben kostete. Neue Technologien können auch für überholte Narrative genutzt werden. Auch das Internet ist ein historisch gesehen relativ neues Medium, mit dem eine Gesellschaft erst lernen muss umzugehen.


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Menschen brauchen meist eine positive Grundstimmung und ein positives Zukunftsbild, um glücklich und erfolgreich zu sein.


Andreas Heinz


Was passiert mit einer Gesellschaft, die von Ängsten und Unsicherheiten beherrscht wird?

Wir laufen in Deutschland Gefahr, in Pessimismus zu verfallen. Das wirkt sich bereits auf verschiedene Bereiche aus. Zum Beispiel werden in anderen Ländern wie den USA und Großbritannien viel mehr Start-ups gegründet. Das hat meiner Meinung nach etwas damit zu tun. Menschen brauchen meist eine positive Grundstimmung und ein positives Zukunftsbild, um glücklich und erfolgreich zu sein. Wir müssen uns als Gesellschaft den Herausforderungen unserer Zeit stellen.

Welche Strategien können Menschen entwickeln, um trotz gefühlter Unsicherheit entspannter durchs Leben zu gehen?

Es ist wichtig, Freunde zu haben, sich mit anderen Menschen auszutauschen, sich gesellschaftlich zu engagieren und das Gefühl zu haben, etwas verändern zu können. Andererseits müssen wir deutlich machen, welche Regeln in unserem Land gelten und wie ein gutes Zusammenleben funktioniert. Diese Regeln müssen aber für alle Menschen in Deutschland gelten. Es ist auch nicht richtig, die Verantwortung für die großen Zukunftsfragen auf einzelne Personen, wie Politiker, abzuwälzen. Das ist die Sehnsucht nach einer Autoritätsperson, die einem das Gefühl gibt, alle Probleme lösen zu können. Letztlich müssen wir uns gemeinsam als Gesellschaft den Herausforderungen stellen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Telefonat mit Professor Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Berliner Charité
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