Deutsches Bier und englischer Pudding Ein "Weihnachtswunder" macht noch keinen Frieden
Das "Weihnachtswunder von 1914" war ein Hoffnungsschimmer im Ersten Weltkrieg. Ein Soldat schrieb per Feldpost in die Heimat von einer Stimmung, "dass endlich Schluss sein möge". Die kurzzeitige Verbrüderung unter Feinden an der Westfront war äußerst bemerkenswert. Sie blieb aber einzigartig und änderte nichts, unterstreicht Herfried Münkler in seinem neuen Werk "Der Große Krieg". Auch eine sportliche Legende relativiert er.
"Dass es bei den folgenden Weihnachtsfesten nicht mehr zu solchen Fraternisierungen kam, ist Anzeichen dafür, dass sich der Charakter des Krieges nach dem Jahreswechsel 1914/15 veränderte. Erst mit dem Ausbruch der Revolution in Russland ist es, nunmehr an der Ostfront, zu Szenen wie denen des Weihnachtsfriedens gekommen", erklärt der Politikwissenschaftler der Humboldt-Universität zu Berlin.
Entschlossenheit und bröckelnde Moral
Die Soldaten im Ersten Weltkrieg taten ihre Pflicht, waren aber auch von Nationalismus und Hass auf den Feind getrieben. Die menschenfeindliche Situation in den Schützengräben und die ständigen Angriffe ohne viel Raumgewinne taten der Entschlossenheit keinen Abbruch - im Gegenteil.
Viele Männer waren aber auch desillusioniert und demoralisiert. Immerhin hatten die Politiker in der Heimat ihnen versprochen: "Bis Weihnachten seid ihr wieder da." Außerdem hatte niemand das Ausmaß des ersten industrialisierten, anonymen Tötens bei diesem wenig glorreichen Waffengang vorhersehen können. Hunderttausende waren bereits in den ersten Monaten auf den Schlachtfeldern gefallen.
Mindestens ein Kriegsteilnehmer wollte keine Friedensverhandlungen
Angesichts der immensen Opferzahlen und der ausbleibenden Erfolge hätte es eigentlich Anstrengungen für einen Waffenstillstand oder sogar Frieden geben müssen. Doch sowohl im deutsch-österreichisch-italienischen Dreibund als auch in der "Triple Entente" bestehend aus Großbritannien, Frankreich und Russland fand sich immer ein Akteur, "aus dessen Perspektive der geeignete Zeitpunkt für die Aufnahme von Friedensverhandlungen noch nicht gekommen war", so Münkler. Und so zog sich der Krieg über die vier Jahre hin.
Die Soldaten mussten die Realitätsferne der Staatsmänner und Militärs ausbaden und viele mit ihrem Leben bezahlen. Und viele sehnten sich gerade an Weihnachten nach ihrem Zuhause und ihren Familien. Die einzige Friedensinitiative ging von ihnen aus - denn das gemeinsame Elend, das gemeinsame Bangen verband.
Feuerpausen im Westen bis ins neue Jahr
Am ersten Weihnachtsfest im Kriege wurden Schilder mit Aufschriften wie "Frohe Weihnachten" oder "Merry Christmas" hochgehalten. Die Feinde in Uniform - vor allem Deutsche, Österreicher und Briten - kletterten aus den Schützengräben, schüttelten sich die Hände, sangen Weihnachtslieder und tauschten deutsches Bier gegen englischen Pudding. Die Feuerpause unter den einfachen Soldaten verbreitete sich - mehr oder weniger stark - an der gut 700 Kilometer langen Frontlinie.
"Dieser 'kleine Frieden' war prekär und hing letztlich davon ab, dass alle mitspielten und keiner die informelle Übereinkunft störte", betont Münkler. "In Anbetracht dessen ist bemerkenswert“ - oder eben menschlich, "an wie vielen Abschnitten diese weihnachtlichen Treffen zwischen den Fronten stattfanden und dass die Feuerpausen oftmals sogar bis ins neue Jahr anhielten." Diese deutlichen Ausdrücke des Wunsches nach Frieden blieben allerdings die Ausnahme.
Ernst Jünger, auf den Münkler verweist, hielt in seinem "Kriegstagebuch" fest, wie früh sich aber mancherorts die Fronten wieder verhärteten: "Nachher versuchten die Engländer sich anzubiedern, indem sie vor dem Abschnitt des 2ten Zuges einen Christbaum mit Fähnchen auf die Brustwehr stellten. Unsere Leute fegten ihn mit etlichen Schüssen wieder herunter." Am Nachmittag war ein deutscher Soldat bei britischem Artilleriebeschuss gefallen.
Rituelle Kampfpause?
Münkler nennt zwei Ansätze, mit denen sich die außergewöhnliche zwischenzeitliche Verständigung unter den Soldaten erklären lässt: entweder als verzweifelter Appell der Frontsoldaten an die Politik, "endlich Friedensgespräche aufzunehmen", oder als "rituelle Kampfpause".
Während dieser Pause sei der Kampf "anlässlich des weihnachtlichen Friedensversprechens für eine begrenzte Zeit unterbrochen worden, um anschließend mit gleicher Intensität wie zuvor wieder aufgenommen zu werden". Münkler vergleicht diese paradoxe Situation mit dem olympischen Frieden im antiken Griechenland. Es herrschte immer wieder Krieg zwischen den hellenischen Staaten, aber während der Wettkämpfe ruhten die Waffen in verlässlicher Regelmäßigkeit.
Im bis dato dunkelsten Kapitel der Menschheitsgeschichte fand der kurze Friede nur an Weihnachten 1914/15 statt, und er blieb auch weitestgehend auf die Westfront beschränkt. Auch dieses Phänomen ist zu erklären.
Im Osten waren die Abstände größer
Münkler gibt zu bedenken, dass das orthodoxe Weihnachtsfest grundsätzlich auf einen anderen Termin (im Januar) fällt. Deswegen sei ein ähnliches Ereignis wie an der Westfront ausgeblieben. Vielleicht war auch die Feindschaft zwischen Deutschen und Russen doch verbitterter, die Fremdheit und das gegenseitige Misstrauen größer als unter den Feinden im Westen. Vielleicht lag es aber, wie der Autor zu bedenken gibt, auch an ganz einfachen und pragmatischen Gründen. Die Stellungen an der russischen Front lagen deutlich weiter auseinander, "sodass es schwierig war, durch Zurufe eine Feuerpause zu vereinbaren".
Was im Westen geschah, war nicht nur die Ausnahme. Es schien auch unwirklich: "Alles, was ich gehört hatte in den Schützengräben, war das Rauschen, Krachen und Jaulen der Kugeln, Maschinengewehrfeuer und entfernte deutsche Rufe", erinnerte sich der britische Veteran Alfred Anderson. Er war 18, als am Morgen des 25. Dezember 1914 plötzlich alles anders war und die Waffen schwiegen.
Und es war nicht unbedingt gewollt: Vorgesetzte versuchten, die untersagten und nicht für möglich gehaltenen Verbrüderungen zwischen den eigentlichen Feinden zu unterbinden. In die Propagandamaschinerien der verfeindeten Staatsführungen passte das "Weihnachtswunder", die "Operation Plum Pudding", nicht. Offiziell wurde diese große Geste der Menschlichkeit auf allen Seiten totgeschwiegen.
Fußball zur Verständigung und als tragisches Symbol
Als legendär gelten neben dem Bier- und Puddingtausch auch Fußballspiele auf dem Schlachtfeld in Kampfpausen - mit Helmen als Torpfosten. Der heute weltweit beliebteste Sport war auch im Krieg ein Instrument der Völkerverständigung. Das gemeinsame Spiel war augenscheinlich die erste und beste Möglichkeit, miteinander auskommen zu können.
Auch an der Somme, dem wichtigsten Erinnerungsort für die Briten, spielte der Fußball eine mythisierte und tragische Rolle. Was dort während des Krieges geschah, erinnert im Ansatz an eine rudimentäre, im Mittelalter auf der Insel betriebene Form des Spiels. Dabei versuchten die Bewohner zweier Dörfer, den Ball durch das gegnerische Eingangstor zu befördern, das mehrere Kilometer entfernt sein konnte.
Die Schlacht zwischen deutschen und britisch-französischen Truppen am Fluss in Nordfrankreich, die sich vom 1. Juli bis zum 18. November 1916 hinzog und mit mehr als einer Millionen getöteter, verwundeter und vermisster Soldaten als die verlustreichste im Ersten Weltkrieg gilt, sollen die Briten mit einem Fußball eröffnet haben. Diesen hätten sie, so Münkler, "auf dem Spielfeld vor sich hergetrieben, um ihn im ersten deutschen Graben unterzubringen".
Bis heute wird dieses Unterfangen insbesondere auf der Insel glorifiziert. Dies ist verwunderlich: Zum einen endete die groß angelegte Offensive der Alliierten ergebnislos. Zum anderen haben "die meisten der an diesem 'sportlichen' Vorhaben Beteiligten nicht überlebt".