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Rakete auf Kinderkrankenhaus in Kiew: Chronik einer russischen Lüge


Nach Angriff auf Kinderklinik
Jetzt kämpft Russland gegen die Fakten


Aktualisiert am 12.07.2024Lesedauer: 8 Min.
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Kinderkrankenhaus Okhmadit: Die Rakete traf das Dialysezentrum direkt und beschädigte durch die Druckwelle diverse weitere Stationen. Zwei Erwachsene wurden getötet. (Quelle: Sergei Chuzavkov/imago-images-bilder)

Alle Beweise sprechen inzwischen dafür, dass das Kinderkrankenhaus in Kiew von einer russischen Rakete getroffen wurde. An dem Fall lässt sich nachzeichnen, wie vielfältig die russische Propaganda Zweifel sät.

Es war 10.49 Uhr in Deutschland und die Formulierung eigentlich zu voreilig: "Russland hat ein Kinderkrankenhaus in Kiew getroffen", twitterte der Autor dieser Zeilen am Montag, dem 8. Juli. Er hätte besser noch ein "mutmaßlich" davor gesetzt. In Russlands Krieg gegen die Ukraine hat sich manch eilige Meldung auf den zweiten Blick als etwas anders dargestellt: Was plausibel scheint, muss nicht richtig sein.

Sahra Wagenknecht sprach am Donnerstagabend in der Talkshow "Illner" zu dem Thema dann auch von der Gefahr, die durch ukrainische Luftabwehrraketen für die eigene Bevölkerung ausgehe. Sie lag damit voll auf der Linie Russlands, das die Schuld für die Explosionen im größten Kinderkrankenhaus der Ukraine deren eigener Luftabwehr zuschrieb.

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In Kriegen tun sich alle Seiten mit unangenehmen Wahrheiten schwer. Russland beharrt aber ganz offensichtlich auf alternativen Wahrheiten, selbst da, wo die Belege erdrückend sind. Dies zeigt eine detaillierte Rekonstruktion des Angriffs auf das Krankenhaus für krebskranke Kinder – und wie im Netz daraufhin mit vermeintlich plausibel klingenden Behauptungen und alten Bildern Verunsicherung und Desinformation betrieben wird. Wer kein Fachmann ist, kann sehr schnell Zweifel bekommen. Womit dann ein Ziel der Desinformation bereits erreicht ist.

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t-online ist am vergangenen Montag außerhalb der Ukraine eines der ersten Medien mit der Nachricht von dem mutmaßlichen Kriegsverbrechen. Der Tweet zieht Kreise und erhält viele Reaktionen auf der Plattform X. Auf der einen Seite: Empörung über Russland und die Klage, dass deutsche Journalisten zu russlandfreundlich formulieren – "hat ein Kinderkrankenhaus bombardiert", müsse das heißen.

Der Fall scheint auf den ersten Blick tatsächlich eindeutig. In der gesamten Ukraine ist an dem Morgen Luftalarm ausgelöst worden. Es gibt Berichte, dass Raketen in Richtung Kiew unterwegs und russische MiG-31K-Maschinen am Himmel zu sehen seien. Um 9.30 Uhr schreibt Bürgermeister Vitali Klitschko auf Telegram von "Explosionen in Kiew!", kurz darauf von weiteren Explosionen, um 10.10 Uhr dann: "Einschlag in Räumlichkeiten einer medizinischen Einrichtung für Kinder." 30 Raketen konnte die Ukraine abfangen, acht nicht.

Die "False Flag"-Behauptungen kommen sofort

Auf der anderen Seite behaupten einige auf X jedoch, es handele sich um einen "False flag"-Angriff. Es dauert keine drei Stunden, bis in den Kommentaren das aufschlägt, was später die offizielle russische Version des Geschehens werden soll: In den Kommentaren postet jemand ein Video. Aufgenommen aus einem Hochhaus zeigt es Hochhäuser in Kiew und zwei Rauchwolken der vorherigen Angriffe. Dann taucht ein Objekt auf, das wie ein Pfeil rasend schnell im steilen Winkel von links oben nach rechts unten fliegt und dort zu einer Detonation führt. "BREAKING", schreibt der Accountinhaber @MyLordBebo auf Englisch dazu, er hat mehr als 400.000 Abonnenten. "Korrigiert mich, wenn ich falsch liege, aber das ist kein Marschflugkörper. Keine Flügel, also ist es eine Luftabwehrrakete?"

Eine Luftabwehrrakete statt eines Marschflugkörpers – dann wäre die Rakete von der Ukraine zur Abwehr gestartet worden und verunglückt gelandet. Das ist zu diesem Zeitpunkt tatsächlich nicht auszuschließen.

Als am 15. November eine Rakete aus der Ukraine kommend in Polen aufschlug und zwei Menschen dadurch starben, wurde Russland offenbar zu Unrecht als Absender verdächtigt. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg selbst klärte damals auf, dass am Tag der bis dato schwersten Angriffe auf die Ukraine eine ukrainische Abwehrrakete den Vorfall ausgelöst habe. Sie war abgefeuert worden, um sich gegen die russischen Angriffe zu verteidigen. Ein Unfall, die Ukraine treffe keine Schuld.

In den Kommentaren unter dem Tweet postet ein Nutzer einen Screenshot eines längst gelöschten Tweets von FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann, damals Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Bundestags. Sie hatte zu Polen geschrieben: "Nicht nur haben russische Raketen offenbar Polen und damit Nato-Gebiet getroffen, sondern auch zu Toten geführt."

Zwei Jahre altes Video als Beleg

Ein anderer Nutzer schickt ein Foto mit einem Video einer Rauchwolke über einem Gebäude. Ein Kameraschwenk zeigt am Flugverlauf, dass eine Rakete kurz vor der Stadt abgeschossen wurde und nach einem kurzen Flug hier eingeschlagen ist. Wäre das Video aktuell und zeigte es den Treffer auf das Krankenhaus, bewiese es, dass es keine russische Rakete war.

Doch das Video ist nicht aktuell. Es entstand am 25. Februar 2022, dem zweiten Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine, als erste russische Truppen vor der Hauptstadt Kiew standen. Getroffen wurde ein Wohngebäude. Russland behauptete auch hier, ukrainische Luftabwehr sei dafür verantwortlich.

Der Nutzer behauptet trotzdem weiterhin in vielen Kommentaren, am Krankenhaus hätten "Ukrainer Ukrainer" angegriffen. Im Profil steht bei ihm "Prosecute Lauterbach" ("Verfolgt Lauterbach"), "ungeimpft" steht oft bei anderen, die Falschinformationen zum Krankenhaus verbreiten.

Bürgermeister Vitali Klitschko postet am späten Vormittag des 8. Juli ein aktuelles Video. "Das ist Horror und Völkermord", schreibt er. "Mehr als hundert Retter sortieren die Trümmer im vom Feind angegriffenen Kinderkrankenhaus." Im Video ist zu sehen, dass Teile der Toxikologie des Krankenhauses in Trümmern liegen, die Druckwelle hat am zehnstöckigen Klinikhochhaus reihenweise Fenster und Teile der Fassade zerstört.

Schadensbild liefert klaren Hinweis

Das Ausmaß der Zerstörung ist ein Indiz dafür, dass es sich um einen russischen Marschflugkörper KH-101 gehandelt hat und nicht um eine Flugabwehrrakete. Mit Sprengköpfen von 20 Kilo wirken Flugabwehrraketen nicht genauso zerstörerisch wie Marschflugkörper mit Gefechtsköpfen von mindestens 400 Kilo. Konkreter erklärt es Fabian Hoffmann, Raketenexperte an der Universität Oslo: "Gegen große Betonstrukturen sind die begrenzte Menge an Sprengstoff und die daraus resultierenden Fragmente absolut wirkungslos." Ein KH-101-Sprengkopf eines Marschflugkörpers mit etwa 200 kg Sprengstoff sei dagegen durchaus dazu in der Lage.

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Auf "X" tauchen nun Fotos von den Aufräumarbeiten auf, auf denen kahle Bäume zu sehen sind. Die Bilder seien also nicht aktuell, auf anderen Fotos hätten die Bäume am Krankenhaus Laub, heißt es in Kommentaren dazu.

Tatsächlich aber hat die Detonation direkt vor dem Gebäude des Dialysezentrums dazu geführt, dass alle Blätter und kleine Äste nahestehender Bäume verbrannt sind. Übersichtsfotos zeigen das.

627 Kinder wurden zum Zeitpunkt des Angriffs dem Gesundheitsministerium zufolge im Kinderkrankenhaus versorgt. Nach dem Raketenangriff stehen vor der Klinik krebskranke Jungen und Mädchen mit kahlen Köpfen, Mundschutz und Infusionsflaschen.

Blutender Arzt wird zum Schauspieler erklärt

Ein Foto davon ist früh in einem russischsprachigen Propagandakanal auf Telegram zu sehen. "Evakuierte Mütter mit kranken Kindern aus dem Okhmatdyt-Krankenhaus nach dem Einschlag", schreibt der Kanalinhaber. "Bin ich der Einzige, der über einen zweiten Schlag mit einer Kinschal-Rakete nachdenkt?" Zustimmende Smileys überwiegen. Hinter dem Kanal mit 220.000 Abonnenten soll ukrainischen Journalisten zufolge ein in Kanada lebender Mann stecken, der aus der Ukraine stammt. Er träumt vom zweiten Schlag, als Russland die Ukraine noch nicht für den ersten verantwortlich macht.

Die Detonation hat durch die Druckwelle auch im Haupt-Krankenhausgebäude Schäden angerichtet. Menschen bilden schnell eine Helferkette, um Trümmer wegzuräumen. Darunter ist auch ein Mediziner, der ein am Rücken mit Blut durchtränktes T-Shirt trägt. Es ist der Kieferchirurg Oleh Holubchenko. Sein Kollege Ihor Kolodka berichtet dem "Spiegel" später, dass sie gerade ein Baby operierten und deshalb nicht die Schutzräume aufsuchen konnten, als die Raketen einschlugen. Es gibt Bilder aus ihrem OP-Saal, die die Zerstörung durch die Druckwelle zeigen. Kolodka trafen Scherben im Gesicht. Holubchenko habe ihm gegenüber mit dem Rücken zum Fenster gestanden und sei dort von einer Scherbe verletzt und durch den Raum geschleudert worden, erzählt Kolodka.

Auf X aber wird behauptet, das Foto sei gestellt, das Blut nur Farbe.

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Vom Moment des Angriffs auf das Krankenhaus tauchen am 8. Juli wenige Stunden nach dem Angriff weitere Videos auf.

Das russische Verteidigungsministerium behauptet um 13.10 Uhr auf Telegram, sie bewiesen, dass Russland unschuldig sei: "Zahlreiche veröffentlichte Bilder und Aufnahmen aus Kiew bestätigen klar, dass die Zerstörungen von ukrainischen Abwehrraketen verursacht wurden, die von einem Anti-Flugzeug-Raketensystem in der Stadt abgefeuert wurden." Aussagen der Kiewer Regierung "über einen angeblich gezielten Raketenangriff der Streitkräfte der Russischen Föderation auf zivile Einrichtungen" seien falsch. Das ist ab jetzt das offizielle russische Narrativ.

Altes Foto von Schrappnell-Blöcken

Am selben Tag werden weitere vermeintliche "Beweise" dafür gepostet, dass es sich um eine ukrainische Luftabwehrrakete handeln soll. Fotos kleiner Metallblöcke. Die Schrapnellen sollen das Angriffsziel in der Luft perforieren, gehören also zu einer Abwehrrakete und nicht zu einem Marschflugkörper.

Auch deutsche Accounts verbreiten die Bilder. Die größte Reichweite bekommen sie durch den amerikanischen Influencer Jackson Hinkle, der regelmäßig mit prorussischer und propalästinensischer Desinformation auffällt. "Am Standort des Krankenhauses gefunden", behauptet er. "Ein weiterer Beweis dafür, dass die Ukraine ihr eigenes Krankenhaus bombardiert hat, nicht Russland."

Das linke Bild stammt mindestens von Juli 2022, als russische Quellen es als Beleg dafür nutzten, dass solche Teile durch die ukrainische Flugabwehr auf Odessa herabgeregnet seien. Das rechte Foto postete der Kanal Kiew24 News tatsächlich am Tag der Angriffe – um 10.20 Uhr: "Nach einem massiven Raketenangriff werden in Kiew Trümmer von Raketen gefunden." Ein Zusammenhang mit der Detonation am Krankenhaus, die dort gerade erst wenige Minuten zurückliegt, wird nicht hergestellt.

Alina Lipp zeigt Video mit KH-101-Raketen

Dafür gibt es Fotos vom Krankenhausgelände, auf denen Teile einer russischen KH-101-Rakete zu sehen sind. Am Tag nach dem Angriff veröffentlicht der ukrainische Geheimdienst SBU eine Sammlung von Fotos von Raketenteilen und ordnet sie den verschiedenen Teilen der Rakete zu. Die Trümmer liegen vor neutralem Hintergrund, sie könnten überall aufgenommen worden sein. Aber es gibt Fotos vom Krankenhaus, auf denen einige dieser Trümmerteile auch zu sehen sind.

Von der deutschen Putin-Propagandistin Alina Lipp wird am 9. Juli, also einen Tag nach dem Angriff, ein Video weitergeleitet, das man "im Westen nie zu sehen bekommen" werde. Es ist inzwischen von diversen westlichen Journalisten gezeigt worden und in den Quellen unter diesem Text verlinkt. Sie postet es als Demonstration dafür, dass die ukrainische Luftabwehr machtlos sei. Die Raketen schlagen hintereinander in die Waffenfabriken Atem 1,3 Kilometer vom Krankenhaus entfernt ein.

Das Video belegt aber zugleich: Russland hat an dem Tag KH-101 nach Kiew geschickt. Aus der Perspektive sind die Flügel gut zu erkennen. Das vermeintliche Fehlen der richtigen Flügel auf den früheren Videos aus dem Hochhaus soll beweisen, sie könnten keine KH-101 zeigen: "Die Flügel sind klar nicht KH-101", heißt es da. Aus der seitlichen Perspektive sind die Flügel auf den Aufnahmen dort auch kaum zu erkennen. Dafür wird auf diesen bekannten Videos das für die KH-101 sehr markante Turbofan-Triebwerk unter dem Heck deutlich.

Und: Sechs Raketen des Typs KH-101 trafen bei der Angriffswelle vor der Detonation am Krankenhaus das Gebäude des Maschinenbauwerks Artem in Kiew.

Rakete flog zuletzt mit 225 Metern/Sekunde

Sogar die Geschwindigkeit, mit der die Rakete einschlug, lässt sich ziemlich genau anhand eines Videos bestimmen, das CNN Arabic zeigt: Es ist aus einem angrenzenden Gebäude gefilmt und zeigt die letzten Meter und die Detonation. Das angrenzende Gebäude und dessen Höhe als Vergleich sind gut abzuschätzen, bekannt sind auch die Längen der verschiedenen Raketen. Weil auch feststeht, dass der Film aus ca. 30 Bildern pro Sekunde erstellt ist, lässt sich aus mehreren aufeinanderfolgenden Fotos die zurückgelegte Strecke der Rakete in dieser Zeit errechnen. Der Analyst Michael Kobs, der im Netz frei verfügbare Quellen untersucht, hat das getan: Es sind etwa 225 Meter pro Sekunde – das entspricht der etwa 0,7-fachen Schallgeschwindigkeit. Mit diesem Tempo fliegen KH-101. Flugabwehrraketen steuern ihr Ziel deutlich schneller an.

Faktenchecks des Recherchekollektivs Bellingcat, der britischen BBC und des von einem Exil-Russen betriebenen Conflict Intelligence Teams (CIT) kommen zum gleichen Schluss. Recherchen des CIT hat die Ukraine in der Vergangenheit nicht immer gemocht. Das hängt primär mit einer Explosion auf dem Markt von Kostiantynivka mit 16 Toten im September des vergangenen Jahres zusammen.

Damals hatte Präsident Wolodymyr Selenskyj ein spektakuläres Video einer Überwachungskamera, das die Explosion zeigte, mit Vorwürfen an Russland gepostet. CIT hatte früh berichtet, dass ein ukrainischer Irrläufer verantwortlich dafür gewesen sein muss. Als auch die US-Zeitung "New York Times" über diesen wahrscheinlichen Hergang berichtete, startete die Ukraine eine Untersuchung. Das Ergebnis ist bisher nicht bekannt. Der Fall zeigt: Die Faktenchecker arbeiten nicht nur in eine Richtung – und grundsätzlich möglich ist auch ein versehentliches Feuer auf eigene Bewohner.

Beim Kinderkrankenhaus allerdings spricht nichts dafür – trotz allem, was sich die russische Propaganda schon hat einfallen lassen.

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