Neue Regeln ab Samstag Bundes-Notbremse kommt – Warnung vor Regelungs-Wirrwarr
Knapp vier Wochen ist es her, dass Kanzlerin Merkel den Ländern wegen ihres Vorgehens in der Corona-Pandemie die Leviten las. Nun kommt die Corona-Notbremse, und sie stößt nicht nur in den Ländern auf Kritik.
Die Menschen in Deutschland müssen sich ab dem Wochenende auf neue Corona-Beschränkungen einstellen. Das neue Infektionsschutzgesetz tritt an diesem Freitag in Kraft, in Kreisen und Städten mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von über 100 in den vergangenen drei Tagen soll die Bundes-Notbremse ab Samstag automatisch greifen, wie das Bundesinnenministerium in Berlin erläuterte. Ministeriumssprecher Steve Alter wies darauf hin, dass in diesen Landkreisen und Städten die nach Landesrecht zuständigen Behörden das Wirken der Notbremse ab Samstag noch am Freitag bekannt machen müssten. Die Kritik aus den Bundesländern an den Regelungen reißt unterdessen nicht ab, auch Kommunen sind unzufrieden.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte das neue Infektionsschutzgesetz mit der Bundes-Notbremse am Donnerstag unterzeichnet. Das teilte das Bundespräsidialamt mit. Das Gesetz muss zum Inkrafttreten jetzt nur noch im Bundesgesetzblatt veröffentlicht werden.
Zuvor hatte der Bundesrat den Weg für die bundeseinheitliche Notbremse zur Eindämmung der Corona-Pandemie frei gemacht. Die Länderkammer ließ das am Mittwoch vom Bundestag beschlossene Gesetz, das unter anderem nächtliche Ausgangssperren vorsieht, am Donnerstag passieren. Trotz erheblicher Kritik an der Vorlage verzichteten die Ministerpräsidenten darauf, den Vermittlungsausschuss anzurufen.
Embed
Kritik an den neuen Maßnahmen
Kritik an den Neuregelungen kommt vom Deutschen Landkreistag. "Die Bundes-Notbremse ist nicht das segensreiche Instrument, für das sie gehalten wird", sagte Landkreistags-Präsident Reinhard Sager der "Rheinischen Post". Die Möglichkeiten der Länder würden eingeschränkt, flexibel und passgenau auf das Infektionsgeschehen vor Ort zu reagieren. Die Regelungslage werde "noch unübersichtlicher, da unterhalb von 100 nach wie vor Landes- und Kreisregelungen greifen können und außerdem oberhalb von 100 die Möglichkeit von strikteren Maßnahmen besteht", kritisierte Sager.
Auch bei der Befassung im Bundesrat hatten mehrere Ministerpräsidenten am Donnerstag Kritik geäußert. Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher sieht Licht und Schatten bei der Bundes-Notbremse. Positiv sei, dass es eine verbindliche Regelung für ganz Deutschland gebe, sagte der SPD-Politiker dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Nachteil sei die Aufweichung der Ausgangsbeschränkung. Für inkonsequent halte er auch eine Öffnung des Einzelhandels durch Click & Meet, also Einkaufen nach Vereinbarung eines Termins. Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) bekräftigte seinen Einwand, das Gesetz sei juristisch "höchst angreifbar" und berge eine "Menge praktischer Probleme".
Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig rügte, das Gesetz halte nicht, was Kanzlerin Angela Merkel versprochen habe. Die SPD-Politikerin kritisierte in der "Rheinischen Post", dass sich schon, wenn der Inzidenzwert drei Tage über 100, und nach fünf Tagen unter dieser Grenze liege, die Regeln änderten. "Das kann zum Beispiel bei den Ausgangsbeschränkungen zu einem ständigen Hin und Her führen. Das wird die Menschen verunsichern", warnte Schwesig. Ihr Land bleibe bei den Schutzmaßnahmen, die über jene des Bundes hinausgingen.
Merkel verteidigt Notbremse erneut
Merkel verteidigte die bundesweite Notbremse in der Corona-Pandemie gegen breiten Protest. "Mir ist bewusst, dass sich die Beliebtheit der Notbremse in Grenzen hält", sagte Merkel am Donnerstag in einer vorab aufgezeichneten Rede bei den digitalen "Familienunternehmer-Tagen". "Aber wir brauchen sie als Wellenbrecher für die dritte Welle."
Erst müsse es gelingen, diese dritte Pandemiewelle zu brechen, dann könne es – in Anlehnung an das Motto der Familienunternehmer-Tage – "Leinen los" heißen, sagte die Kanzlerin in Berlin. Dann könne man auch auf einen "Kurs aus der Krise" wieder hin zu neuem Wachstum einschwenken. "Aber bis dahin braucht es noch Durchhaltevermögen", mahnte Merkel. Gerade die Familienunternehmen seien hier gefragt und gefordert.
Mit dem geänderten Gesetz würden einheitliche, klare Regeln geschaffen. "Denn das Problem war ja, dass die bisherige Notbremse zu zögerlich umgesetzt beziehungsweise in einzelnen Regionen unterschiedlich ausgelegt wurde", sagte Merkel. "Das machte es Bürgerinnen und Bürgern unnötig schwer, nachzuvollziehen, wo wann welche Regelungen gelten."
Welche Regelungen gelten?
Steigt die Inzidenz über 100, gelten folgende verschärfte Maßnahmen zusätzlich zu den bisherigen Einschränkungen:
- Kontaktbeschränkungen: Drinnen und draußen dürfen sich nur noch Angehörige eines Haushalts mit einer weiteren Person treffen.
- Öffnungen von Geschäften: Geöffnet bleiben der Lebensmittelhandel einschließlich der Direktvermarktung, ebenso Getränkemärkte, Reformhäuser, Babyfachmärkte, Apotheken, Sanitätshäuser, Drogerien, Optiker, Hörgeräteakustiker, Tankstellen, Stellen des Zeitungsverkaufs, Buchhandlungen, Blumenfachgeschäfte, Tierbedarfsmärkte, Futtermittelmärkte und Gartenmärkte sowie Fahrrad- und Autowerkstätten, Banken und Sparkassen, Poststellen und Ähnliches. Bei einer Inzidenz zwischen 100 und 150 ist allerdings Shoppen nach vorheriger Terminbuchung möglich. Voraussetzung ist unter anderem ein negativer Corona-Test. Unabhängig von der Inzidenz kann bestellte Ware im Geschäft abgeholt werden.
- Körpernahe Dienstleistungen: Dienstleistungen, bei denen eine körperliche Nähe unabdingbar ist, sollen nur zu medizinischen, therapeutischen, pflegerischen oder seelsorgerischen Zwecken in Anspruch genommen werden. Ausnahmen gibt es nur für den Friseurbesuch mit einem tagesaktuellen negativen Corona-Test.
- Freizeitmöglichkeiten: Gastronomie und Hotellerie sowie Freizeit- und Kultureinrichtungen bleiben geschlossen. Die Außenbereiche von Zoos und Botanischen Gärten sollen weiter öffnen können, wenn "angemessene Schutz- und Hygienekonzepte" eingehalten werden. Außerdem müssen Besucher ab sechs Jahren einen negativen Corona-Test vorweisen.
- Sport: Berufssportler sowie Leistungssportler der Bundes- und Landeskader können weiterhin trainieren und auch Wettkämpfe austragen. Für alle anderen gilt: Sport ja, aber allein, zu zweit oder nur mit Mitgliedern des eigenen Hausstandes.
- Ausgangsbeschränkungen: Im Zeitraum zwischen 22 Uhr und 5 Uhr darf das Haus nur noch aus triftigen Gründen verlassen werden. Spazierengehen und Joggen soll noch bis 0 Uhr erlaubt bleiben, so lange Sie dabei alleine bleiben.
- Schulen: Schüler und Lehrer müssen sich für die Teilnahme am Präsenzunterricht zweimal pro Woche testen lassen. Ab einer Inzidenz von 100 ist Wechselunterricht vorgeschrieben, ab einem Wert von 165 nur noch Distanzunterricht erlaubt. Mögliche Ausnahmen: Abschlussklassen und Förderschulen.
- Nachrichtenagenturen dpa und AFP