G20-Gewalt: Suche nach Ursachen "Können von Glück reden, wenn es keine Toten gibt"
In Hamburg eskaliert die Gewalt, Demonstranten und Polizei beschuldigen jeweils die Gegenseite. Es ist aber komplizierter.
Für die Hamburger Polizei steht spätestens seit Freitagmorgen fest: alles richtig gemacht. Seit Wochen warnten die Sprecher vor Tausenden militanten Gewalttätern, die das Treffen der G20-Staatschefs nutzen würden, um Hamburg ins Chaos zu stürzen. Sie fühlen sich nun bestätigt: verletzte Beamte, brennende Autos, zerstörte Schaufenster. "Wir sind entsetzt über die offensichtliche Gewaltbereitschaft", twitterte die Polizei, deren Sprecher Timo Zill sich unter Angriffen in einen Rettungswagen flüchtete.
Für die Demonstranten ist hingegen klar: Die Polizei ist nicht hier, um Schlimmeres zu verhindern, sondern Protest zu ersticken - spätestens seit die Einsatzkräfte am Donnerstag die "Welcome to Hell"-Demo in St. Pauli nach wenigen Hundert Metern mit Knüppeln, Pfefferspray und Wasserwerfern aufgelöst haben. Auch zahlreiche Demonstranten wurden verletzt. "Die Polizei hätte sich an die Verhältnismäßigkeit halten müssen", sagte Demo-Anmelder Andreas Blechschmidt dem Nachrichtensender n-tv. Das sei aber offensichtlich nicht gewollt gewesen.
Blamage für Merkel
Pressevertreter vor Ort schlossen sich zum Teil der Einschätzung an, die Polizei habe bewusst auf Eskalation gesetzt. Das wäre eine Blamage für Hamburg, Deutschland und nicht zuletzt Bundeskanzlerin Merkel. Sie trifft während des Gipfels auf autoritäre Staatschefs, die nun die eigenen Repressionen gegen Oppositionelle rechtfertigen können. So wie gewalttätige Demonstranten strafrechtlich verfolgt werden, müsste in diesem Fall auch Einsatzleiter Hartmut Dudde die Verantwortung übernehmen.
Doch die Schuldzuweisungen sind vorschnell. Protestsituationen können auf beiden Seiten Dynamiken auslösen, die nur noch schwer kontrollierbar sind - erst Recht in der Großstadt. Der Zugriffsort auf der polizeilich genehmigten Route ist extrem eng. Auch eine Massenpanik wie bei der Loveparade war bei der Vielzahl der Teilnehmer nicht ausgeschlossen.
Polizeiexperten wollen sich bislang noch nicht festlegen, von welcher Seite die Eskalation forciert wurde. "Ich würde gar nicht von Schuld einer bestimmten Seite sprechen", sagt Polizeiwissenschaftler Rafael Behr von der Akademie der Polizei Hamburg. Es bewahrheite sich, was er befürchtet habe. "Einsatzkräfte der Polizei werden zum Feindbild, Demonstranten kriminalisiert, Kritiker verdammt, Privatpersonen durch Sicherheitsmaßnahmen in ihrem Bewegungsspielraum eingeschränkt", hatte Behr bereits vor den Ausschreitungen zu t-online.de gesagt und von einer "Zerreißprobe für die offene Gesellschaft" gesprochen.
"Null Toleranz" deeskalierte die Lage nicht
Auch Jan Reinecke, Hamburger Landesvorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), sieht die Hauptverantwortung für die Geschehnisse in der Politik - genauer: bei Kanzlerin Merkel, die den Gipfel im Alleingang nach Hamburg holte. "Es ist genau das eingetreten, was ich und viele Kollegen prophezeit haben", sagt der Gewerkschaftler. "Die Polizei ist von der Politik in ein Dilemma geführt worden - sie muss den Gipfel schützen." Eine "Null-Toleranz"-Einsatzlinie sei sehr früh als das geringste Übel angesichts der Gewaltansagen von Linksextremisten ausgegeben worden.
Auch Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes kritisierte die Politik gegenüber tagesschau.de: "Mit der Entscheidung für Hamburg hat man die Polizei in eine Zwangssituation gebracht, die ohne Fehler gar nicht zu bewältigen ist." Der an gleicher Stelle befragte Soziologe Peter Ulrich von der TU Berlin sagte, die Polizei löse das Dilemma auf Kosten der Protestierenden, eine Abwägung finde gar nicht mehr statt. Polizei-Experte Thomas Wüppersahl bezeichnet den Polizeieinsatz im Gespräch mit Zeit-Online sogar als "außerhalb der Rechtsstaatlichkeit".
Das wiederum sei eine logische Konsequenz der Entscheidung für Hamburg als Austragungsort des Gipfels, sagt Kriminologe Christian Pfeiffer, ehemaliger Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, zu t-online.de. "Es muss Schluss sein mit dieser Art der Politikinszenierung, Status- und Symbolpolitk - Kommunikation von Staatschefs kann einfacher organisiert sein. Nicht die Polizei, sondern die Politik ist Schuld", sagt Pfeiffer. "Wir können von Glück reden, wenn es keine Toten gibt."