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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Hochbegabten-Kita Der schwierige Umgang mit den kleinen "Wunderkindern"
Zwei Drittel aller Menschen haben einen IQ von 85 bis 115. Zwei Prozent kommen über 130 und nur das oberste Zehntel eines Prozents erzielt einen IQ-Wert von 145 oder darüber. Doch diese Höchstbegabten werden später nicht selbstverständlich hochdotierte Wissenschaftler - stattdessen verstecken sich viele oder haben Eltern, die ihnen helfen wollen "normal" zu sein. Andere reagieren aggressiv, zeigen Verhaltensmuster, mit denen sie anecken und verstärken so noch zusätzlich den negativen Blick auf sie. Auf diese Weise wird die Hochbegabung schnell vom Segen zum Fluch, teilweise schon bei Kleinkindern.
Damit das nicht passiert, eröffnet in Nürnberg gerade der zweite Hochbegabtenkindergarten. Eine Einrichtung, in der Kinder mit einem hohen IQ so sein dürfen, wie sie sind. In der sie ihren Wissensdurst befriedigen und ähnlich gepolte Freunde finden können und die trotzdem von einer Elite-Schmiede weit entfernt ist.
Hochbegabte Kinder brauchen ein entsprechendes Gegenüber
Auf den ersten Blick unterscheidet die Kindertagesstätte ArcheMedes nichts von anderen modernen Kitas. Helle, freundliche, offene Räume, durchdachte, kindgerechte Lösungen, viel Raum für Begegnung und Bewegung. "Natürlich bieten wir den Kindern Spiele an, die ihrem Intellekt entsprechen und Schach ist da tatsächlich ganz vorndran, aber das ist nur ein Aspekt", sagt Christine Mull, Leiterin der zweisprachigen Einrichtung, in der auf deutsch und englisch gespielt, gesungen, gelesen und erzogen wird.
Letztendlich ginge es darum, dass hochbegabte Kinder hier nicht nur die entsprechende Umgebung und Stimulation finden, die ihr extrem wacher Geist braucht, sondern auch ein adäquates Gegenüber. Menschen, die wissen, wie sie "ticken", die ebenfalls einen sehr hohen IQ haben, diesen aber nicht als Problem betrachten. "Wir empfinden das Anderssein dieser Kinder nicht als Schwierigkeit, sondern als Bereicherung - und allein schon durch diese Sichtweise auf ein Kind ändert sich innerhalb weniger Wochen dessen Verhalten."
Die meisten Erzieher sind überfordert
Seit 13 Jahren arbeitet Christine Mull mit hochbegabten Kindern. Oft hat sie erlebt, dass ihr Kinder gebracht wurden, mit denen man in anderen Kindergärten überfordert war: "Es sind vor allem die Jungs, die sich aggressiv zeigen und schwierig werden, wenn man nicht entsprechend auf ihre Fähigkeiten eingeht."
Ohne entsprechende Vorbildung kommt man oft nicht auf die Idee, ein Kind könne hochbegabt sein und einfach andere Bedürfnisse haben. Kein Wunder, ist doch die Hochbegabung bei der Ausbildung von Erziehern nur selten ein Thema, das man vertiefter behandelt. "Diese Erzieher können dann ja auch gar nicht verstehen, was es mit dem doch oft sonderlichen Verhalten auf sich hat und die Situation mit dem Kind ist nach einiger Zeit meist ziemlich verfahren." Um dem vorzubeugen, bieten sie und ihr Kollege, der Hochbegabten-Experte Reinhard Ruckdeschel, Weiterbildungen an, in denen sie die Teams anderer Kindergärten schulen.
Hochbegabung hat viele Gesichter
"Bei uns ist jedes Kind willkommen", stellt Christine Mull aus genau diesem Grund klar. Denn die Kindertagesstätte ArcheMedes in Nürnberg ist zwar einerseits mit ihrem Angebot und ihren speziell geschulten Mitarbeitern auf das Thema Hochbegabung ausgerichtet. Man legt aber andererseits viel Wert darauf, die Kinder nicht zu separieren, sondern zu integrieren." Nicht jedes hochbegabte Kind ist übrigens ein Mathe- oder Sprachgenie. "Wir haben zum Beispiel ein Kind hier, das ist im sozialen Bereich hochbegabt. Die Kleine ist drei Jahre alt und hat bereits die Bedürfnisse der gesamten Gruppe im Blick. Es macht so viel Spaß, sie zu beobachten."
"Wir wundern uns über gar nichts mehr"
Auch Kai kann mehr als andere Kinder in seinem Alter. Der pfiffige Junge ist gerade mal fünf und kann fließend lesen. Das Angebot, den Kleineren in der Mittagspause regelmäßig vorzulesen, wird ihm aber schnell langweilig. "Also hat er die Bücher einfach verkehrt herum gehalten und kopfüber gelesen, damit es wieder spannender für ihn wird", lacht Mull.
"Bei uns wundert sich über so etwas schon lang keiner mehr", schmunzelt auch Reinhard Ruckdeschel. "Für uns ist das normal. Wir wissen dann, dass wir diesem Kind zusätzliche Herausforderungen geben müssen." Geht man nämlich auf die besonderen Bedürfnisse nicht ein, dann werden diese Kinder oft zu Einzelgängern. Der Konflikt zwischen Anpassung und Individualität kann dann ziemlichen Stress verursachen.
Federführend für andere Einrichtungen in Deutschland
Der Träger der Einrichtung, das CJD (Christliches Jugenddorfwerk Deutschlands e.V.), war deutschlandweit der erste, der sich dem Thema Hochbegabung gewidmet hat. "Hier war anfangs der Gegenwind ziemlich stark", erinnert sich Diplompsychologe Ruckdeschel. "Man befürchtete, dass wir eine Elite heranzüchten wollten." Trotzdem gelang es 1980 zunächst im gymnasialen Bereich besondere Bedingungen für Hochbegabte zu schaffen. "Aber wir haben schnell erkannt, dass man viel früher beginnen muss und entsprechende Möglichkeiten geschaffen."
Die kleinen "Besserwisser" haben es nicht leicht
"In unserer Gesellschaft wird es immer wichtiger, darauf zu achten, dass wir allen Kindern gerecht werden. Daher werden schwächere Kinder auch verstärkt gefördert. Das ist gut so. Aber bei den anderen machen wir häufig den Fehler, zu glauben, sie kämen ja allein klar." In der Missachtung dessen, was gerade hochbegabte Kinder brauchen, sieht Ruckdeschel ein klassisches Problem. Denn diese Kinder haben dann Schwierigkeiten, das richtige Arbeitsverhalten zu lernen. Sie geben sehr schnell auf, leiden unter einem Perfektionismus, der sie dann häufig kapitulieren lässt und ihnen letztendlich schlechte Noten beschert. "Diese Schwierigkeiten kann man bereits im Kindergarten erkennen und entsprechend gegensteuern."
Die Entwicklung eines hochbegabten Kindes verläuft nicht gleichmäßig auf allen Ebenen. Gerade bei Kindergartenkindern kann man beobachten, dass zum Beispiel die Feinmotorik weit hinter den kognitiven konzeptuellen Fähigkeiten zurück bleibt. Die Kinder wissen im Geiste, was sie konstruieren wollen, aber ihre motorischen Fähigkeiten machen ihnen einen Strich durch die Rechnung. Das kann ziemliche Frustrationen auslösen und damit so manchen Wutausbruch.
"Auf eine IQ-Zahl würde ich mich nie verlassen"
Jedes sechste Kind in der Einrichtung ist hochbegabt. Das aber wird nicht thematisiert. Die Kinder suchen sich allerdings, und das haben Forschungen bestätigt, ein entsprechendes Gegenüber mit dem sie sich nicht sonderbar fühlen. Das heißt, Freunde, die auf ihrem Level sind. "Die zu finden, ist bei uns deutlich leichter als in anderen Kindergärten." Durch diese Freundschaften kommen dann auch die Eltern ins Gespräch und können sich austauschen.
"Seriöse Tests kann man sowieso erst ab etwa fünfeinhalb Jahren durchführen", so Ruckdeschel. "Und wir testen einfach im letzten Kindergartenjahr alle Kinder. Auf ganz spielerische Art und ohne einen Unterschied zu machen zwischen denen, von denen man bereits sehr stark vermutet, dass sie hochbegabt sind und den anderen." Erstens um allen die gleichen Chancen zu lassen und auch die zu finden, die sich bisher gut versteckt haben und zweitens, um bei entsprechender Begabung möglicherweise passende Schulkonzepte wie Montessori, Jena-Plan oder auf Hochbegabte eingerichtete Grundschulen zu wählen. "Bei einem hochbegabten Kind ist es wichtig, es dahingehend zu fördern, dass es lernt, sich Herausforderung selbst zu suchen und den Pädagogen als Lernbegleiter zu sehen."
Erwachsene Intelligenz trifft auf kindliche Emotion
Wer ein hochbegabtes Kind angemessen unterrichten möchte, der muss damit umgehen können, dass das geistige Niveau nicht dem sozialen und emotionalen Alter entspricht. "Es gibt Kinder, die sind fünf Jahre und haben, was das logisches Denken angeht, ein Referenzalter von über 13. Da wird es schwierig, in jeder Situation angemessen auf das Kind zu reagieren und es nicht in anderen Bereichen zu überfordern", erklärt Mull.
So sah das schon die Psychologin Leta Hollingworth, Vorreiterin auf dem Gebiet der Hochbegabtenförderung, in den 1920er Jahren: "Wenn die Intelligenz eines Erwachsenen und die Emotionen eines Kindes in einem kindlichen Körper aufeinandertreffen, bleiben gewisse Schwierigkeiten nicht aus."
Man hätte es lieber mal Linus planen lassen sollen
Seit September 2013 ist die Kindertagesstätte für hochbegabte Kinder nun in Betrieb, einiges noch nicht fertig. Wenn es nach Linus geht, dann wird es auch noch eine Weile dauern. Hat der Vierjährige doch ausdrücklich klargemacht, dass der Elektriker das Stromnetz ganz anders hätte verlegen müssen, damit es wirklich effektiv sei.