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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Wenn der Kindermund peinlich wird "Du hast einen Popel in der Nase!"
Manchmal möchte man am liebsten vor Scham im Erdboden versinken, wenn die Sprösslinge mit unverblümten Worten die Welt kommentieren. Ohne Tabus, ohne Etikette sagen sie frei heraus, was sie über andere denken oder stellen schonungslos direkte Fragen.
Zahllos sind die Anekdoten, die Väter und Mütter teils amüsiert, teils beschämt über ihre Kinder erzählen, wenn diese mit ihren spontanen Äußerungen übers Ziel hinaus geschossen sind. So erzählt eine Mutter: "Wir haben kürzlich im Supermarkt an der Kasse wirklich einen sehr dicken Mann gesehen und meine Kleine brüllte laut: 'Mama warum hat der Mann so einen dicken Bauch. Kriegt der bald ein Baby?'"
Eine andere Mutter erinnert sich: "Als sich im Bus eine alte Dame neben meinen Sohn setzte, fragte er sie neugierig, ob sie auch ihre Zähne herausnehmen könnte? Sie antwortete dann mit einem freundliche 'Nein', worauf mein Kurzer stolz erwiderte 'Aber mein Opa kann das - stimmt's, Mama?'"
Ungefilterte Ehrlichkeit ohne Rücksicht auf kulturelle Regeln
Gerade Kinder zwischen dem dritten und siebten Lebensjahr sind besonders eifrig, wenn es darum geht, ihre Sicht der Dinge offen kundzutun und frei weg zu sagen, was sie denken. Dabei registrieren sie meist nicht, dass sie bei dem einen oder anderen mit ihren kindlichen Offenheit anecken.
"Diese unverfälschte Ehrlichkeit", erklärt Diplompsychologe Andreas Engel, "ist typisch für diese Entwicklungsphase. Mit dem Spracherwerb setzen sie ihre Wahrnehmung im Gegensatz zu uns Erwachsenen direkt und unmittelbar um. Alles ist noch ungefiltert - ohne soziale Rücksichtnahme und die vielen ungeschriebenen Gesetze der Höflichkeit und der Etikette, die ja ohnehin in jeder Kultur anders sind."
Woher sollen kleine Kinder auch schon so früh wissen, wie man sich "korrekt" verhält und die entsprechenden gesellschaftlichen Regeln verinnerlicht haben? In so jungen Jahren ist ihnen noch nicht bewusst, dass zum Beispiel Schlankheit in unserer Kultur positiv bewertet wird oder dass es eher unangebracht ist, Menschen, die man nicht kennt, darauf aufmerksam zu machen, das sie einen dicken Popel in der Nase haben.
Einfühlungsvermögen durch das Vorbild der Eltern lernen
Diese "taktlosen Momente" werden also nur deshalb als peinlich empfunden, weil Kinder die komplizierten Konventionen der Erwachsenenwelt noch nicht verstehen - eine Welt, in der Offenheit und Gradlinigkeit nicht immer zur angestrebten Norm gehören, vor allem dann, wenn es um Höflichkeit und Diplomatie geht.
Erst mit der Zeit lernen Kinder ihre Zungen zu zügeln oder gar die Wahrheit ein wenig zu beschönigen. Voraussetzung dafür ist aber, dass sich Kinder in andere Menschen hineinversetzen können und Einfühlungsvermögen zeigen.
"Empathie wächst etwa ab dem Kindergartenalter besonders durch das Vorbild der Eltern", erklärt Engel. "Mütter und Väter können die Sensibilität gegenüber anderen bei ihrem Nachwuchs aber noch zusätzlich fördern, indem sie gerade nach peinlichen Vorfällen, zu Hause nochmal in Ruhe mit ihrem Kind über das Geschehene sprechen und es zum Beispiel konkret fragen 'wie würdest du dich denn fühlen, wenn du keine Haare hättest und alle würden dich anstarren?‘"
"Die meisten Menschen reagieren humorvoll"
Grundsätzlich sollten Eltern aber gelassen bleiben, wenn ihr Nachwuchs mal wieder unbekümmert Kommentare abgibt, empfiehlt Engel: "Die meisten Menschen, so ist meine Erfahrung, reagieren in solchen Situationen eher wohlwollend und humorvoll, kommen sogar häufig ins Gespräch mit den Kindern und erklären ihnen offen, was sie wissen wollen."
Deshalb bräuchten sich Eltern eigentlich auch nicht für ihren Nachwuchs zu entschuldigen, geschweige denn ihr Kind zu überreden, dies zu tun, so der Experte weiter. Man könne höchstens versuchen, in der als unangenehm empfundenen Situation, sein Kind abzulenken, so dass es seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes richtet.
Gelassenheit verhindert größeren Streit
Äußern sich Betroffene doch einmal unwirsch und verärgert über kindliche Kommentare, die ihnen galten, sollten Eltern dennoch versuchen ruhig zu bleiben.
Engel rät: "Hitzige Diskussionen haben hier keinen Sinn, denn dabei würden sich die Emotionen noch mehr hochschaukeln. Effektiver ist es dagegen, sich ernsthaft und ohne Ironie für den guten Erziehungsrat zu bedanken und vielleicht noch kurz zu erwähnen, dass solche Äußerungen nicht ungewöhnlich bei Kindern seien und sicherlich nicht persönlich und verletzend gemeint seien. Das entspannt die Situation wahrscheinlich sehr."
Mit Kindern über ihre Fragen und Kommentare sprechen
Nicht besonders hilfreich ist es allerdings, wenn Eltern versuchen, mit pauschalen Sätzen wie "das sagt man nicht", "so was darfst du nicht fragen" oder "sei nicht so ungezogen" die kindliche Neugier zu stoppen und damit weitere vertiefende Gespräche zu verhindern. Der Lerneffekt ist dann gleich Null.
Besser ist es, dem Kind später sachlich zu erklären, dass es beispielsweise dicke Menschen verletzt, wenn man über ihren Bauch spricht oder dass alte Menschen es unangenehm finden, wenn sie in der Öffentlichkeit darüber Auskunft geben sollen, ob sie ein Gebiss tragen oder nicht.
Auch in der Situation selbst können Eltern auf die unverblümten Fragen ihres Nachwuchses ruhig antworten. Dies sollte dann aber aus Rücksicht auf andere eher knapp und sachlich sein, ohne ausschweifende Erklärungen. Das ist gerade dann wichtig, wenn etwa Menschen mit Behinderung oder alte gebrechliche Menschen die Neugier des Kindes wecken.
Auf die Frage, warum jemand im Rollstuhl sitzt, kann man dann beispielsweise kurz erwidern, dass er eben nicht laufen kann und deshalb dieses Hilfsmittel braucht. Später lässt sich das nochmal ausführlicher besprechen.
"Kindermund tut Wahrheit kund"
Entwaffnende Ehrlichkeit bei Kindern ist aber auch etwas Positives, auch wenn es dadurch aus Sicht der Erwachsenen manchmal peinlich wird: "In dem, was Kinder so unverblümt und unreflektiert von sich geben, ist ja oft sehr viel Wahrheit versteckt, die nur sie so schonungslos aussprechen können - genau wie im Märchen 'Des Kaisers neue Kleider'", sagt Andreas Engel. "Diese Spontaneität ohne jegliche beengende Konventionen hat etwas sehr Erfrischendes und Befreiendes."