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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Angstlust Warum Kinder sich so gerne gruseln
Die Hände werden feucht, wir drücken uns tief in den Kinosessel und manchmal mögen wir auch gar nicht hinschauen, weil es so unerträglich spannend ist, was auf der Leinwand zu sehen ist. Ähnlich angespannte Gefühle löst auch eine rasante Achterbahnfahrt aus, die wir häufig nur mit einer gehörigen Portion Geschrei ertragen können. Viele Menschen empfinden jedoch diese Art von Gänsehautfeeling nicht als unangenehm, sondern als beflügelnden Kick, der sogar Lust auf mehr macht. Doch nicht nur Erwachsene erleben solche Momente, wo Spaß und Angst sich begegnen, als besonders aufregend. Auch Kinder mögen diesen Nervenkitzel. Doch wie viel davon ist gut für den Nachwuchs und woher kommt der Spaß an der Furcht?
"Nochmal!", ruft der zweijährige Finn begeistert. Er will, dass sein Papa ihn wieder und wieder hoch in die Luft wirft und dann im allerletzten Moment auffängt. Dieses kribbelnde Gefühl macht dem Knirps Riesenspaß und er kann nicht genug davon bekommen. Er vertraut blind darauf, dass er gehalten wird. Mit dieser Gewissheit wird der "Kick" erst richtig schön.
Die Lust an der Angst
Solche kalkulierbaren Schreckmomente lieben nicht nur die Kleinsten. In allen Altersgruppen gibt es dieses spannende Wonnegefühl, sei es auf der Schiffschaukel, bei einer unheimlichen Nachwanderung, in der Geisterbahn oder beim Bungee-Jumping. Psychologen sprechen in diesem Zusammenhang von der sogenannten "Angstlust". Dabei handelt es sich eigentlich um eine Mischung aus widersprüchlichen Emotionen: Freiwillig setzen wir uns dabei dem Gefühl der Gefahr aus, mit der Zuversicht, alles werde schließlich in einer sichereren Geborgenheit wieder gut enden.
Glückshormone und Lebensgenuss
Für das Wohlbefinden nach dem "Kick" sind Hormone verantwortlich. In den Momenten der erwarteten Gefahr wird zunächst Adrenalin ausgeschüttet, so dass die Wahrnehmung erheblich geschärft wird. Nach der "Angstsituation" sind dann die Endorphine am Zug. Diese Glückshormone sorgen zunächst für Euphorie, stimulieren das Lustzentrum des Gehirns und flauen schließlich ab, so dass positive Entspannung sich ausbreitet.
Für die Psychologin Gertraud Finger, die sich in ihrem Buch "Brauchen Kinder Ängste?" auch mit diesem paradoxen Gefühlsmix auseinandersetzt ist die Angstlust eine sehr menschliche Eigenschaft, die in jedem verankert ist und ungemein bereichernd wirken kann: "Wir sehnen uns nach solchen Augenblicken, weil sie mit intensiven Emotionen und hoher Erregung verbunden sind. Es sind die Momente, in denen man sich unglaublich lebendig fühlt."
Die Spannungsdosis ist altersabhängig
Wie hoch die ausgewogene Dosierung vom Spannung-Wonne-Mix sein darf, hängt natürlich vom Alter ab. Mutet man kleinen Kindern zu viel zu, kann die Stimmung rasch kippen und sich in nackte Panik wandeln. Babys und Kleinkinder erleben Angstlust am liebsten bei Spielen wie etwa Hochwerfen, "Hoppe, Hoppe, Reiter" oder "Jetzt krieg ich dich", wo nur ein kurzer beängstigender Augenblick der "Gefahr" ertragen wird. Dann kreischen sie lustvoll und wissen unbewusst, dass sie von der Vertrauensperson, die mit ihnen spielt, auf jeden Fall behütet werden und in Sicherheit sind.
Die ersten spannenden Geschichten im Kindergartenalter
Kindergartenkinder reflektieren die Angstlust schon ganz anders. Sie überwinden sich bei der bestimmten Situationen bewusst, trauen sich etwas: Sie wandern zum Beispiel an der sicheren Hand von Mama und Papa abends durch die Dunkelheit und genießen das Abenteuer oder sie laufen etwa am Strand vor den Wellen davon, um sich gleich danach zu entscheiden wieder hineinzuspringen. In diesem Alter hören sich Kinder auch mit Wonne schon die ersten spannenden Vorlesegeschichten an, die dann auf Wunsch mehrmals wiederholt werden müssen. So stabilisiert sich die Gewissheit, dass am Ende alles gut ausgeht und die Kleinen können besser die unheimlichen Momente ertragen.
Für die kindliche Entwicklung sei dieser Wechsel zwischen Furcht, Überwindung und Erleichterung sehr wichtig, weiß Psychologin Gertraud Finger: "Damit üben sie auf spielerische Weise, wie man mit beängstigenden Gefühlen umgeht und vor allem, dass man sie bewältigen kann. Das stärkt enorm das Selbstbewusstsein." Außerdem lernten sie, so die Expertin, dass sie Anspannung ertragen könnten und wüchsen so dran.
Der unheimliche Spaß am Gruseln
Erst im Vorschul- und Grundschulalter können Kinder mit Gruselgefühlen etwas anfangen und den schaurigen Nervenkitzel genießen, ohne Angst zu bekommen. Jetzt ist die Zeit, wo zum ersten Mal Geisterbahnfahren oder Halloween als Gänsehaut-Spaß erlebt wird. Denn in diesem Alter ist die sogenannte "magische Phase" vorbei. Die Kinder sind sich nun im Klaren, dass es Gespenster, Vampire, Hexen oder Monster in Wirklichkeit nicht gibt. So können sie zwischen Fiktion und Realität klar unterscheiden und unheimliche Begegnungen mit Phantasiewesen lustvoll erleben.
Besonders reizvoll ist es für Kinder sich gegenseitig zu erschrecken, indem man selbst in die Rolle eines Monsters schlüpft und sich als "Böser" verkleidet. So verlieren gerade an Halloween auch bedrohlich erscheinende Maskeraden ihren Schrecken, weil die Kinder ja wissen, dass sich hinter der furchterregenden Grimasse der beste Freund oder die beste Freundin versteckt.
Aufregende Mutproben
Eine andere Form, bei der Kinder Angstlust erleben, sind Mutproben. Vor allem Zehn- bis 13-Jährige holen sich den beglückenden "Kick", wenn sie waghalsige Sachen unternehmen. Sie klettern etwa auf hohe Bäume oder balancieren über wacklige Stege und Zäune. All diese Aktionen haben gemeinsam, dass die Kinder sich bewusst einer Angst aussetzen, dabei aber auch intensiv eine Art Glücksgefühl empfinden. Für Gertraud Finger sind solche Situationen wichtig für die Entwicklung: "Die Kinder wissen um das Risiko, das sie eingehen, spüren ihre Ängste und erleben gleichzeitig, dass sie diese durch ihr mutiges Handeln in den Griff bekommen. Das ist ein sehr befriedigendes Erlebnis, denn es lässt die Kinder ihre Kraft erfahren." Ähnliche Emotionen werden auch ausgelöst beim Besuch einer Achterbahn oder anderen "gewagten" Fahrgeschäften. Dort werden die Ängste allerdings nicht durch geschicktes Verhalten überwunden, sondern allein dadurch, dass die Kinder der Situation nicht ausweichen, sich freiwillig überwinden und dadurch Spaß erleben.
Der "Thrill" beim Film
Auch beim Fernsehen oder Filme schauen kann sich Angstlust entwickeln. Es gibt ältere Kinder, die sich etwa auf DVDs immer wieder dieselben Sequenzen ansehen. "Dabei kennen sie die Handlung und wissen, dass es gut ausgehen wird", erklärt Gertraud Finger diese "passive" Angstlust. "Sie sitzen beschützt auf dem Sofa und holen sich die Angst. Das Risiko ist gering, denn sie haben es in der Hand, den Apparat wieder abzustellen. Außerdem wissen sie, dass die Gefahr, die ihnen im Augenblick Bauchkribbeln verursacht, bald vorüber geht." So verlassen die Kinder nur in Gedanken die sichere reale Welt und tauchen ein in die Wonnen der virtuellen Risiken, sind sich aber bewusst, dass sie im nächsten Moment schon ins friedliche Wohnzimmer zurückkehren können.
Spielerisch mit Ängsten umgehen
Jugendliche erleben Thriller oder Horrorstreifen am liebsten in der Gruppe. Gerne wird dabei über Effekte und filmtechnische Tricks geredet oder es werden Witze über die schrillsten Szenen gemacht. Gertraud Finger hat bei ihren psychologischen Studien beobachtet, dass die Stimmung immer dann besonders albern wurde, wenn die Situation im Film extrem spannend oder furchterregend war. "Das gemeinsame Lachen schafft einen Abstand zu den Aufregungen. So entwickeln Jugendliche gemeinsam eine Balance, bei der sie Spannung genießen können, ohne die Angst oder das Grauen zu nahe an sich herankommen zu lassen", erläutert die Psychologin. Außerdem wissen auch die Jugendlichen, dass der Spannungsbogen meist mit der Auflösung der Angst endet. Nach dem Showdown sind alle Bösewichter vernichtet und der Held des Films hat stellvertretend für den Zuschauer alle Schwierigkeiten überwunden. Das gibt ein gutes Gefühl. Insofern werden auch hier die Kriterien der Angstlust erfüllt: Eine Mischung aus Furcht und Freude, die an eine Rückkehr zur Sicherheit gekoppelt ist.
Balance der Gefühle ist wichtig
Da die Angstlust eine Mixtur aus sehr widersprüchlichen Gefühlen ist, ist eine Balance dieser Emotionen extrem wichtig, damit eine entsprechende Situation als positiv und nicht als bedrohlich empfunden wird. Dabei muss immer gewährleistet sein, dass die Kinder sich freiwillig in die vermeintliche Gefahr begeben. Deshalb sollten Eltern ihre Sprösslinge auch nie drängen, sich einer bestimmten Situation auszusetzen, die Angst machen könnte. Das kann vor allem bei kleineren Kindern eine Gratwanderung sein, denn schnell wird aus begeistertem Lachen, panisches Weinen. Wichtig dabei ist, dass die jeweilige Aktion jederzeit gestoppt werden kann.
So sollten Eltern ihre Kleinen beispielsweise nie alleine auf einem Kinder-Karussell fahren lassen - auch wenn es noch so langsam ist - da sie bei plötzlicher Panik nicht sofort eingreifen können. Auch bei spannenden Kindersendungen kann die zerbrechliche Balance der Angstlust schnell aus dem Lot geraten. Psychologin Gertraud Finger rät deshalb davon ab, jüngere Kinder entsprechende Filme allein anschauen zu lassen. Sie seien noch nicht in der Lage ohne Hilfe die angemessene Dosis von Spannung zu finden und im richtigen Moment den Aus-Knopf zu drücken.
Grundsätzlich ist das ausgewogene Maß der Angstlust aber schwierig zu steuern. Immer besteht das Risiko, dass die Situation kippt und die Angst plötzlich die Lust dominiert. Das hängt auch immer vom Charakter des einzelnen Kindes ab, ob es eher zu den mutigen Draufgängern oder zu den zurückhaltenden Skeptikern gehört. Eltern sollten deshalb ihre Kinder, vor allem die Jüngeren, in den entsprechenden Situationen genau beobachten und in sie "hineinhorchen" und dabei stets im Hinterkopf haben, dass man solche "Momente mit dem besonderen Kick" auf jeden Fall zulässt und den Nachwuchs nicht vor jedem Wagnis behütet und bewahrt. Denn das Gefühl der Angstlust ist ein wichtiger Impuls für die Entwicklung des Selbstbewusstseins, vorausgesetzt der gute und sichere Ausgang des Gefahrenmoments ist von vorne herein und zu jeder Zeit gewährleistet.