"Homeschooling" versus Schulpflicht Deutsche Familie klagt vor Europäischem Menschengerichtshof
Müssen Kinder in die Schule gehen oder haben Eltern das Recht ihren Nachwuchs zuhause zu unterrichten? Mit dieser Frage beschäftigt sich der Europäische Gerichtshof in den kommenden Monaten, nachdem eine Familie aus Hessen Klage eingereicht hat. Sie sieht in der Schulpflicht eine "Freiheitsbeschränkung".
Das Ehepaar Wunderlich aus der Nähe von Darmstadt, unterrichtete seine vier Kinder zwischen 11 und 17 Jahren zuhause. "Wir hatten so ein schönes Familienleben", sagte Vater Dirk Wunderlich in Straßburg. "Das wollten wir nicht verlieren." Sie weigerten sich, ihre Kinder auf eine öffentliche Schule zu schicken, doch der deutsche Staat pocht auf die Schulpflicht.
Familie Wunderlich empfand es als "furchteinflößend" als die Kinder abgeholt wurden. Die Haustür sei mit einem Rammbock geöffnet, die Wohnung "gestürmt", die Eltern zur Seite gestoßen und die Kinder "weggezerrt" worden. Die Wunderlichs sehen in der Schulpflicht eine Verletzung ihres Menschenrechts und so führen die gläubigen Christen seit Jahren einen Rechtsstreit nach dem anderen.
In einigen Monaten wird der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte über ihre Klage entscheiden müssen. (Beschwerde-Nr. 18925/15). Im Fall der Familie geht es aber auch darum, mit welchen Mitteln der Staat die Schulpflicht durchsetzen darf.
Erfahren Sie hier die wichtigsten Antworten auf Fragen rund um das Thema “Homeschooling“ versus Schulpflicht.
Die Schulpflicht ist gesetzlich verankert
Die Schulpflicht ist in Deutschland seit der Weimarer Verfassung 1919 festgeschrieben. Sie ist eine gesetzliche Regelung, die Kinder und Jugendliche ab einem bestimmten Alter für neun bis zehn Jahre dazu verpflichtet, eine öffentliche oder private Schule zu besuchen. Geregelt ist die Schulpflicht in den Landesverfassungen und unterliegt daher in den Bundesländern leichten Unterschieden.
Ist das ein skurriler Einzelfall?
Die Kultusministerkonferenz schätzt, dass bundesweit 500 bis 1000 schulpflichtige Kinder zu Hause unterrichtet werden.
Wie ist die Rechtslage in Deutschland?
Ausnahmen von der Schulpflicht sind in Deutschland kaum möglich. Das Bundesverfassungsgericht hält das für gerechtfertigt. 2014 entschied es: Die Allgemeinheit habe ein berechtigtes Interesse daran, religiös oder weltanschaulich motivierte Parallelgesellschaften zu verhindern. Anders als im Heimunterricht könnten sich Kinder in der Schule nicht vor einem Dialog mit Andersdenkenden verschließen.
Wie sieht der Europäische Menschenrechtsgerichtshof das?
Genauso. In einer Entscheidung von 2006 heißt es klar: Es gibt kein Recht auf Heimunterricht. Zur Begründung schlossen sich die Straßburger Richter der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts an. Außerdem könnten Eltern ihre Kinder auch nach der Schule entsprechend ihrer religiösen Überzeugungen erziehen.
Sind andere europäische Länder auch so streng?
Nein. Beim Homeschooling herrscht in Europa kein Konsens, stellte der Menschenrechtsgerichtshof fest. Familie Wunderlich wollte deshalb nach Frankreich auswandern, ein anderes Elternpaar brachte seine Kinder in ein österreichisches Dorf. Auch die Schweiz ist liberaler.
Darf der Staat die Schulpflicht um jeden Preis durchsetzen?
Eltern, die ihre Kinder nicht in die Schule schicken, riskieren Bußgelder, Geld- oder sogar Haftstrafen. Die Polizei kann die Kinder abholen und in die Schule bringen. Den Eltern kann das Sorgerecht entzogen werden. Was angemessen ist, hängt auch vom Kindeswohl ab.
Gibt es Kritik an dieser strengen Schulpflicht?
"Es ist sogar juristisch falsch", sagt Juraprofessorin Frauke Brosius-Gersdorf. Statt an einem "Alles-oder-nichts-Prinzip" festzuhalten, müsse man fragen, ob Kinder nicht auch anders als durch den Schulbesuch in die Gesellschaft integriert werden könnten. Etwa nachmittags im Sport- oder Musikverein.
Ilka Hoffmann von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft warnt dagegen davor, die Schulpflicht aufzuweichen. "Das ist eine große demokratische Errungenschaft", sagt sie. "Häufig stecken hinter dem Wunsch nach Heimunterricht radikalreligiöse Gruppen. Es kann nicht im Interesse einer Demokratie sein, diesem Ansinnen nachzukommen." Außerdem müssten die Kinder vor solchen Sekten geschützt werden.
Wird Straßburg das deutsche Heimunterrichtsverbot kippen?
"Nein, wahrscheinlich nicht", sagt selbst Andreas Thonhauser, dessen Nicht-Regierungsorganisation die Familie Wunderlich in Straßburg vertritt. "Wir hoffen aber, dass eine Diskussion darüber in Gang kommt, ob ein komplettes Verbot noch zeitgemäß ist."
Ein Sprecher der Kultusministerkonferenz hält eine Reform für unrealistisch. "Es sei denn, ein Urteil würde das verlangen", sagt er. "Die Haltung ist klar. Es gibt eine Schulpflicht. Punkt."
Dirk Wunderlich selbst erwartet nicht, dass der Menschenrechtsgerichtshof Heimunterricht erlauben wird. Außerdem würde er selbst eine vollständige Niederlage gelassen hinnehmen: "Unser Leben ist nicht mehr abhängig von der Entscheidung", sagte er. "Wir werden völlig in Ruhe gelassen vom Jugendamt."