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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Experte zu Adlerangriffen "Ein absolut tödlicher Händedruck"
In Norwegen ist ein kleines Kind auf einem Bauernhof von einem Steinadler angegriffen worden. Kann so etwas auch bei uns in Deutschland passieren?
Eine Meldung aus Norwegen versetzt zurzeit Menschen in Nordeuropa in Alarmstimmung: Ein Steinadler hat ein 20 Monate altes Kind auf einem Bauernhof angegriffen, ihm dabei Verletzungen am Kopf zugefügt, wie der öffentlich-rechtliche Sender NRK berichtet (lesen Sie hier mehr dazu).
Was hat es mit dem Verhalten des Raubvogels auf sich? Wie verhält sich ein Steinadler normalerweise bei der Jagd und könnte es zu einem solchen Angriff auch in Deutschland kommen? Dazu hat t-online mit dem Falkner, Jäger und Norwegenkenner Martin Kreer von der Greifvogelstation des Wild- und Freizeitparks Willingen (Hessen) gesprochen.
t-online: Herr Kreer, was sagen Sie zu der Attacke eines Steinadlers auf ein kleines Kind in Norwegen? Haben Sie schon einmal von einem solchen Verhalten bei Raubvögeln gehört?
Martin Kreer: Ich muss Ihnen ehrlich sagen, dass ich noch nie von solch einem Fall gehört habe. Menschen gehören nicht zur Beute eines Steinadlers. Ich kann mir einen solchen Angriff nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen erklären. Dazu gehören die Größe des Kindes, die Witterungsbedingungen und Beschaffenheit der Landschaft.
Was hat es mit der Größe des Kindes auf sich?
Steinadler jagen eigentlich Beute von der Größe kleiner Nager wie Ratten, Kaninchen oder Hasen. Aber sie gehen auch schon mal auf einen Fuchs oder ein Rehkitz. Wir sprechen hier von Beutetieren mit einem Gewicht bis sechs Kilogramm, in einigen Fällen aber sogar noch mehr. Ein zwanzig Monate altes Kind, das vielleicht auf allen vieren umherkrabbelt, könnte da im Zweifel schon mal in das Beuteschema fallen. Aber das wäre auch wirklich nur dann denkbar, wenn das Kind ganz allein war und nicht etwa andere Menschen oder Haustiere in der Nähe waren.
Was hätten die Beschaffenheit der Landschaft und die Witterung damit zu tun?
Ganz einfach, in Norwegen ist es viel einsamer. Da kann ein Bauernhof inmitten von Wäldern schon mal eine halbe Stunde von der nächsten menschlichen Behausung entfernt sein und im Jagdrevier eines Adlers liegen. Was die Witterung betrifft: Die großen Greifvögel fliegen nicht bei Unwetter oder Sturm. Sie benötigen bestimmte Aufwinde und Thermiken, um in der Luft gleiten zu können. Dann müssen sie manchmal mehrere Tage ohne Futter ausharren.
Und dann ist der Hunger besonders groß?
Ja, natürlich. Nach maximal fünf Tagen ohne Nahrung muss Beute gefunden werden. Womöglich hat in Norwegen vor dem Angriff ein Unwetter getobt und bei der Auswahl der Beute ist es dann zu diesem, ich sage mal, Fehlverhalten des Vogels gekommen.
Das Kind hat Verletzungen am Kopf davongetragen, eine Wunde am Hinterkopf musste genäht werden. Hätte es viel schlimmer ausgehen können?
Das kann ich aus der Ferne natürlich nicht einfach so einschätzen. Aber ich kann Ihnen sagen, dass Steinadler genau das tun. Sie gehen bei der Jagd auf den Kopf, den Nacken oder die Wirbelsäule des Beutetieres. Das hängt damit zusammen, dass ein Adler mit seinen Krallen, also quasi mit seinem Griff, tötet – anders als zum Beispiel Falken, die mit ihrem Biss und durch die Beschaffenheit ihres Schnabels töten. Ein bisschen, wie wenn wir mit den Händen zugreifen. Sie müssen sich vorstellen, dass die verschiedenen Adler mit ihren Zehen einen Druck von 100 Kilogramm bis hin zu einer Tonne ausüben können.
Gut zu wissen
Steinadler gehören zu der Gattung Aquila innerhalb der Familie der Habichtartigen (Accipitridae). In Deutschland brüten Steinadler momentan nur in den bayerischen Alpen. Nach dem Seeadler ist der Steinadler der derzeit größte in Deutschland brütende Greifvogel mit einer Körperlänge von 75 bis 90 und Spannweite von 215 bis 230 Zentimetern (Weibchen) und einem Gewicht von drei bis sechseinhalb Kilogramm. Im Flug ist er an den breiten, leicht angehobenen Flügeln und auffällig gefingerten, nach oben gebogenen Flügelspitzen zu erkennen. (Quelle: LBV)
Ein tödlicher Händedruck also. Ein kleines Beutetier hat da keine Chance, oder?
Ein absolut tödlicher Händedruck, ja. Die Krallen eines Adlers können einen Schädelknochen durchbohren. Und wird der Schädel penetriert, ist ein Beutetier auch schnell tot.
In dem Fall aus Norwegen eilte die Mutter zu Hilfe und versuchte, den Adler zum Ablassen zu bewegen. Sie schlug auf ihn ein, aber der Vogel ließ nicht los.
Das rührt daher, dass Adler im Moment des Zufassens einen Krampf in den Greifen bekommen. Das ist ein ganz natürlicher Vorgang, der dazu dient, die Beute bis zum bitteren Ende festzukrallen. Die Vögel können diesen Krampf auch gar nicht aktiv selbst lösen. Dazu muss etwas Zeit vergehen.
Die Greifvogelstation des Wild- und Freizeitparks Willingen zählt 50 Greifvögel (22 Arten). Berufsfalkner zeigen hier Besuchern, wie die teils seltenen Tiere leben und jagen.
Ihre Beute fliegen Adler dann sicherlich zu ihrem Horst. Ginge das auch mit einem kleinen Kind?
Nein, wer so etwas behauptet, erzählt Märchen. Ein so großer Vogel muss seine Beute ja auch erst einmal nach oben bekommen. Der Start ist für einen Adler die größte Schwierigkeit – mit dem Zusatzgewicht von einem Beutetier ist es umso schwerer, sich in die Lüfte zu schwingen. Bei einem großen Beutetier frisst ein Raubvogel deshalb vor Ort und auch nur etwa 200 Gramm, damit er flugfähig bleibt.
Könnte ein Angriff auf ein kleines Kind auch in Deutschland passieren?
Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Schon weil Steinadler sehr selten geworden sind. Sie brüten in Deutschland nur noch im Alpenraum. Die Tiere brauchen zum Jagen offene oder halboffene Landschaften, die nicht von Stromleitungen oder Windkraftanlagen gestört werden und ihr Revier umfasst bis 100 Quadratkilometer. Steinadler haben bei uns also keine guten Bedingungen und meiden menschliche Ansiedlungen.
- Telefonisches Interview
- LBV: "Der Steinadler im Porträt: Alles über seine Biologie und Verhalten"