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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Meeresbiologe Ritter "Die größte Gefahr droht von anderer Stelle"

Wale faszinieren die Menschheit seit jeher, doch viele Details über die Meeressäuger sind eher unbekannt. Biologe Fabian Ritter erklärt, was Wale besonders macht und wie sie besser geschützt werden können.
Die fortschreitende Klimakrise spüren nicht nur die Menschen, sondern auch einzigartige Lebewesen wie Wale und Delfine. Wesen, die der Mensch erst seit Kurzem besser zu verstehen beginnt.
Welche faszinierenden Eigenschaften besitzen Wale und Delfine? Wie stark sind diese Lebewesen bedroht? Und was müsste der Mensch tun, um sie und die Umwelt insgesamt zu bewahren? Diese Fragen beantwortet Fabian Ritter, Biologe und Autor des Buches "Wir Wale. Die Welt der Meeressäuger durch ihre Augen", im Gespräch.
t-online: Herr Ritter, Sie beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit Walen. Gibt es eine Art, die Sie besonders fasziniert?
Fabian Ritter: Ich bewundere alle Wale und Delfine, aber der Grönlandwal ist schon etwas Besonderes. Diese Wesen können mehr als 200 Jahre lang leben – das ist länger als jedes andere Säugetier.
Was wiederum bedeutet, dass es gegenwärtig in arktischen Gewässern durchaus uralte Individuen geben könnte, die noch zu Zeiten eines Napoleon Bonaparte geboren worden sind?
So ist es. Selbstverständlich wird aber nicht jedes dieser Wesen derart alt. Sie können etwa vorher an Krankheiten sterben oder durch andere Lebewesen getötet werden. Grönlandwale leben – wie der Name nahelegt – tatsächlich ausschließlich in arktischen, also sehr kalten Gewässern, rund um den Nordpol. Die niedrigen Temperaturen in diesem Lebensraum werden als ein Grund vermutet, warum diese Walart ein so hohes Alter erreicht. Ihre Körperkerntemperatur liegt zwischen 33 und 34 Grad Celsius, das ist ein ziemlich niedriger Wert für ein Säugetier.
Zur Person
Fabian Ritter, Jahrgang 1967, ist Biologe und Meeresschützer. Ritter war 1998 Mitgründer des gemeinnützigen Vereins M.E.E.R., dessen Vorsitzender und wissenschaftlicher Leiter er bis heute ist. Seit 2003 ist der Biologe Mitglied im Wissenschaftsausschuss der Internationalen Walfangkommission (IWC). Gerade erschien mit "Wir Wale. Die Welt der Meeressäuger durch ihre Augen" Ritters neues Buch.
In Ihrem neuen Buch "Wir Wale" erzählen Sie unter anderem die fiktive Geschichte eines Grönlandwals. Wie kamen Sie auf diese Idee?
Mein Ziel bestand darin, die Menschen über diese faszinierenden Wesen aufzuklären. Der Grönlandwal in meiner Geschichte wird 1799 geboren, zehn Jahre nach der Französischen Revolution. Er durchlebt das ganze 19. Jahrhundert mit der Industriellen Revolution, er existiert, während die Menschen zu Land und zur See die beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert austragen. Im Dezember 1943 gerät er gar in das Seegefecht vor dem Nordkap zwischen der deutschen Kriegsmarine und den Alliierten. Der Kalte Krieg, der Fall der Berliner Mauer, der 11. September 2001, während all dieser Krisen lebte er mit seinen Artgenossen in den arktischen Gewässern. Der Grönlandwal wird über 220 Jahre alt, hatte damit gewaltiges Glück, viel mehr als die meisten seiner Artgenossen.
Die bis zu 18 Meter langen Grönlandwale wurden vom Menschen stark bejagt. Wie steht es heute um diese Art?
Die Populationen erholen sich allmählich. Aber die Lage ist weiterhin kritisch, der Lebensraum dieser Wesen ist in größter Gefahr. Denn der Mensch dringt – nicht zuletzt als Folge der globalen Erwärmung – nach Norden vor. Die Nordwest- und die Nordostpassage werden zunehmend eisfrei, die Reedereien nutzen diese Seewege bereits verstärkt. Ebenso weiten Orcas mehr und mehr ihre Aktivitäten in Richtung Arktis aus, seitdem die Wassertemperaturen steigen. Sie greifen als geschickte Jäger die weit größeren Grönlandwale durchaus an. Die steigenden Temperaturen bleiben zudem nicht ohne Auswirkungen auf die Nahrungsgrundlage der Grönlandwale: Plankton. Die größte Gefahr droht aber von anderer Stelle.
Zahlreiche Staaten und Unternehmen wollen die Bodenschätze der Arktis ausbeuten.
Genau. Je mehr sich das Eis zurückzieht, desto mehr Explorationsschiffe dringen auf der Suche nach Öl- und Gasvorkommen in arktische Gewässer vor. Die Erkundung des arktischen Gebiets birgt ebenso Risiken wie die Förderung von Öl und Gas. Wenn in der Arktis oder in kalten Gewässern ein Unfall mit riesigen Mengen austretendem Öl passiert, dann wäre das die absolute Katastrophe. Eine Ölpest ist in tropischen Gewässern bereits schlimm, aber in kalten Gewässern laufen Abbauprozesse wesentlich langsamer ab. Momentan ist aber die Exploration das größte Problem: Bei der Suche setzen die Schiffe Schallkanonen ein, die einen unfassbaren Lärm unter Wasser verursachen – für so empfindliche Wesen wie Wale bedeutet das Stress und die Gefahr eines Gehörverlustes.
Bitte erzählen Sie noch etwas mehr über die Lebensweise der Grönlandwale.
Im Wasser überträgt sich Schall ganz hervorragend, die Wale kommunizieren auf diese Weise auch über weite Entfernungen. Für das menschliche Auge mag ein einzelner Grönlandwal, der durch arktische Gewässer schwimmt, einsam sein. Doch der erste Eindruck kann täuschen, er steht über viele Kilometer in Kontakt mit Artgenossen.
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Was leisten die Sinne von Walen noch?
Mit hoher Wahrscheinlichkeit können bestimmte Walarten – in meinem Buch habe ich es für den Grönlandwahl beschrieben – das Meer selbst hören. Wale sind Geschöpfe des Meeres, das Wasser trägt sie, macht sie schwerelos. Die Haut eines Wals ist weniger eine Trennlinie, wie wir Menschen es empfinden, sondern vielmehr eine Kontaktlinie. Bartenwale – wie der Grönland- und Blauwal – senden niederfrequente Schallwellen aus, können sehr wahrscheinlich sogar ermitteln, wie tief das Meer unter ihnen ist oder wo sich unter Wasser etwa ein Gebirge auftürmt. Was für uns Menschen eine riesige einförmige Wassermasse ist, stellt für Wale eine vielfältige Landschaft mit zahlreichen Facetten und Strukturen dar.
Sie haben Ihr Buch aus der Perspektive von Walen und Delfinen geschrieben. Warum?
Ich möchte deutlich machen, dass der Mensch nicht die Krone der Schöpfung ist. Tatsächlich betrachte ich mich als Vermittler zwischen der Welt an Land und der Welt der Meere. Was ich in meinem Buch beschreibe, ist die Leistung und das Verdienst dieser Lebewesen, zugleich profitierte ich von der Arbeit zahlreicher Forscherinnen und Forscher. Wenn wir vermögen, uns dergestalt in die Meereswesen hineinzuversetzen, kann echtes Verständnis und damit Mitgefühl entstehen.
Welche Rolle spielt die Sprache?
Immer wieder begegnet mir der Ausdruck von Wal- oder Fischbeständen. Welche Vorstellung von der Natur und diesen Lebewesen kommt da zum Ausdruck? "Bestand" klingt nach Lagerhaltung, aber Wale und Fische sind keine Gegenstände, bei denen man sich ungestraft endlos bedienen kann. Das Gleiche gilt für den gesamten Lebensraum Meer. Auch benutze ich bewusst Begriffe wie "Mann" und "Frau" anstatt "Männchen" und "Weibchen" – einfach um zu verdeutlichen, dass es da keine Kluft gibt zwischen Mensch und "Tier", sondern enorm viele Ähnlichkeiten.
Die Meere und Ozeane galten lange Zeit als schier unerschöpfliches Reservoir. Entsprechend wurden sie ausgebeutet. Wie ist die derzeitige Lage?
Es gibt massive Probleme. Die Meere sind überfischt und vermüllt, dazu kommt die globale Erwärmung, die die Meere aufheizt. Korallen bleichen aus, Seegraswiesen gehen in beachtlichem Ausmaß zugrunde. Nahrungsnetze werden labil, irreversible Kipppunkte werden erreicht.
Zumindest der Schutz der Wale hat insbesondere seit dem Walfangmoratorium von 1986 Fortschritte gemacht.
Das ist richtig. Aber gelöst ist das Problem noch lange nicht. Nehmen wir den Schweinswal in Nord- und Ostsee. Der Schweinswal ist – auf dem Papier – eine der am besten geschützten Arten, er darf weder gestört, noch gejagt oder gar getötet werden. Trotzdem sterben jedes Jahr einige Tausend dieser Wesen als Beifang der Fischerei. Dazu kommen die schon erwähnten Probleme wie der Zerstörung der Lebensräume und der Überfischung. Auch der stetig zunehmende Unterwasserlärm macht den äußerst geräuschempfindlichen Walen weltweit zu schaffen.
Das klingt nun alles überaus düster. Bleiben Sie trotzdem Optimist, was die Zukunft der Meere und Wale betrifft?
Die Lage ist dramatisch, da sollten wir uns keine Illusionen machen. Ich bin aber zugleich hoffnungsvoll: Es ist durchaus möglich, dass dieser Planet noch eine paar Karten in der Hinterhand hat, um wieder ein Gleichgewicht herzustellen. Die Prozesse in der Natur sind extrem komplex. Wichtig ist, dass wir Menschen verstehen, dass unsere gegenwärtige Lebensweise letztendlich auch uns selbst schadet. Der Homo sapiens ist aus Sicht der Evolution ein Newcomer, er löscht mit den Walen allerdings faszinierende Wesen aus, die es seit mehreren Millionen Jahren gibt. Aber wir können unser Verhalten ja auch ändern, und dafür plädiere ich. Dies muss mit einem Bewusstseinswandel einhergehen, wo wir Menschen uns als integralen Teil der Natur betrachten und sie entsprechend behandeln.
Haben wir nicht nur uns, sondern auch die Wale missverstanden?
Wir Menschen haben uns viel auf unser Gehirn eingebildet. Die menschliche Fähigkeit zur Persönlichkeitsentwicklung, dem Eigenbewusstsein und zur Planung sitzt vor allem in der Großhirnrinde, die stark gefaltet ist. Auf den Neokortex ist der Mensch besonders stolz drauf. Nun verfügen auch andere Säugetiere über einen Neokortex, insbesondere der bei Walen und Delfinen ist aber sehr ausgeprägt. Ein Großer Tümmler hat zwei Kilo Gehirn, der Orka fünf Kilo und der Pottwal bringt es auf acht Kilo. Entsprechend größer ist der so wichtige Neokortex. Gehirngestalt, -aufbau und Feinstruktur, zusammen mit ihrem Verhalten sprechen Bände: Wale und Delfine sind sehr intelligent und haben gleichzeitig ein hohes Maß an Emotionalität.
Wie äußert sich das?
Sie helfen sich gegenseitig, etwa Kranken oder Verletzten. Sie kooperieren miteinander, beschützen sich vor Gefahren und kommunizieren ständig miteinander. Es braucht das Miteinander der Gruppe. Auf diese Weise haben Wale und Delfine das "Wir" als Seinsweise schon seit Millionen Jahren kultiviert.
Wie sehen uns die Wale und Delfine wohl?
Sie sind wahrscheinlich völlig irritiert. Einerseits zeigen die Menschen größtes Interesse an ihnen, sie fahren auf Booten zu diesen Lebewesen hinaus und bewundern sie. Andererseits verdreckt der Mensch Küsten und Meere, macht unglaublichen Lärm in den Meeren und jagt teils auch noch Wale und Delfine. Diese Ambivalenz muss den Walen und Delfinen längst aufgefallen sein. Zu guter Letzt ist mir noch eines wichtig zu betonen: Anders als lange Zeit angenommen, sind Tiere – ich nenne sie lieber Lebewesen – Individuen. Kein Orca ist wie ein anderer Orca.
Sie sind also im Wortsinn Persönlichkeiten?
Wale und Delfine entwickeln Charaktere und Persönlichkeiten, sie teilen ihr Wissen und bilden Traditionen und somit Kulturen. Bei manchen Walarten kommt es für die Gruppe besonders auf die alten Matriarchinnen an, sie sind für das soziale Netzwerk einer Gruppe ganz entscheidend. Der Verlust eines solchen Individuums ist für die anderen besonders schwer zu verkraften. Worauf will ich hinaus? Wichtig ist es, nicht nur Populationen zu schützen, sondern auch Individuen beziehungsweise die kulturellen Eigenheiten von Gemeinschaften nicht–menschlicher Tiere.
Herr Ritter, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Fabian Ritter via Videokonferenz