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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ukraine bei den Paralympischen Spielen Zwischen Volleyball und Drohnen-Krieg
Die Paralympischen Spiele in Paris starten. Mit dabei ist auch die ukrainische Mannschaft. Sie musste durch den Krieg um ihre Teilnahme kämpfen.
Es ist eine einfache Wand eines Bauernhauses, die Dmytro Melnyk üblicherweise als Trainingspartner dient. Melnyk ist Sitzvolleyballer und als solcher Teil der ukrainischen Delegation bei den Paralympischen Spielen in Paris. Als Teenager stürzte er von einem Balkon und zog sich zahlreiche Brüche zu. Seitdem ist sein linkes Bein etwas kürzer als sein rechtes.
Vom Sport hielt ihn das nicht ab. Doch Zeit zu üben, muss Melnyk aktuell erst einmal finden. Denn eigentlich ist er Drohnenpilot und damit Teil der Landesverteidigung der Ukraine gegen den russischen Angriffskrieg. Mehrfach wollte sich Melnyk trotz seiner Behinderung der ukrainischen Armee anschließen, wurde jedoch immer abgelehnt. Auf eigene Kosten ließ er sich schließlich zum zivilen Drohnenpiloten ausbilden und wurde im März 2023 doch noch bei der Armee angenommen.
Melnyks Schicksal und das seines Teamkollegen Jewgeni Korinets – ein ehemaliger Volleyballer, der im Kriegseinsatz als Rettungssanitäter ein Bein verlor – stehen stellvertretend für den großen Einfluss, den der Krieg auf die paralympischen Athleten der Ukraine genommen hat.
Häuser zerstört, tote Familienmitglieder
Insgesamt 140 Athleten der Ukraine werden in Paris in 17 verschiedenen Sportarten antreten. "Wir fahren zu den Paralympischen Spielen, um für den Sieg zu kämpfen", sagt Valeri Suskowitsch, Präsident des Nationalen Paralympischen Komitees über seine Delegation.
Der Weg zu den Paralympischen Spielen war jedoch beschwerlich. Suskowitschs Angaben zufolge wurden die Wohnungen und Häuser von 100 ukrainischen Paralympioniken durch den Krieg zerstört. Zahlreiche Athleten mussten sich aus besetzten und umkämpften Gebieten in andere Teile des Landes durchschlagen, um sich den paralympischen Traum erfüllen zu können. Ein Teammitglied verlor bei einem Bombenangriff seinen 10-jährigen an Kinderlähmung erkrankten Sohn und seine Frau wurde schwer verletzt.
Trainingszentrum eingenommen
Neben den persönlichen Schicksalen traf der Krieg den paralympischen Sport in der Ukraine aber auch strukturell. Der wohl schwerste Schlag: die Einnahme des Hauptquartiers und Trainingszentrums des Verbandes auf der Krim. Durch die Lage des Trainingszentrums mussten sich die paralympischen Sportler schon seit der illegalen Annexion der Halbinsel 2014 mit der russischen Aggression auseinandersetzen, konnten jedoch zunächst weitertrainieren.
"Von 2014 bis 2022, bis zum vollständigen Krieg zwischen Russland und der Ukraine, war unser Zentrum Eigentum der Ukraine", erklärt Suskowitsch. "Niemand hat es besetzt. Und nach einigen Monaten, nach dem Ausbruch des Krieges, hat Putin unser paralympisches Zentrum besetzt."
"Es war das beste paralympische Trainingszentrum der Welt, meiner Meinung nach und in der Meinung vieler Menschen", sagt Suskowitsch. "Und dieses Zentrum war wirklich die Quelle unserer guten Ergebnisse."
Vorbereitung an der Seite von verwundeten Soldaten
In der Tat schneidet die Ukraine bei den Paralympischen Spielen in der Regel sehr gut ab. Während der letzten zehn Winter- und Sommerspiele stand das Land stets in den Top sechs des Medaillenspiegels. Trotz der widrigen Umstände möchten die Ukrainer ihren Erfolg aufrechterhalten.
Ein Großteil der Vorbereitung absolvierte das Team nun im Westlichen Rehabilitations- und Sportzentrum in Jaworiw im Oblast Lwiw. Dort konnten die Athleten in einem barrierefreien Umfeld trainieren. Außerdem werden dort Rehabilitations- und Sporttrainingslager für Veteranen und Angehörige der Streitkräfte organisiert, die im Krieg eine Behinderung erlitten haben. Der Krieg ist also auch dort omnipräsent.
"Frontlinie in der Arena"
Angesichts der Umstände ist es wenig verwunderlich, dass der ukrainische Verband die Teilnahme von fast 100 russischen und belarussischen Athleten als "neutrale Athleten" an den Paralympischen Spielen ein Dorn im Auge ist. Offiziell heißt es, die Sportler hätten keinerlei Verbindung zu Putins Apparat. Die ukrainischen Paralympioniken wollen allerdings das Gegenteil beweisen und recherchieren deshalb schon seit zwei Jahren.
Laut Suskowitsch ist der Behindertensport eine wichtige Säule der Rehabilitation verwundeter Soldaten in Russland. In der besetzten ukrainischen Region Donezk sollen deshalb dafür sogar neue Sportorganisationen gegründet worden sein.
Nicht umsonst sprechen die ukrainischen Athleten vom "Kampf" um Medaillen und einer "Frontlinie in der Arena". Matvii Bidnyi, Leiter des Ministeriums für Jugend und Sport, betont: "Die Teilnahme der ukrainischen Paralympioniken hat heute eine besondere symbolische Bedeutung für unser Land. Ich bin zuversichtlich, dass sie ihre besten Leistungen zeigen, ihre Geschichten erzählen und einmal mehr unsere Widerstandsfähigkeit, Stärke und Entschlossenheit zum Sieg demonstrieren werden."
- nzz.ch: "An den Paralympics treffen sich die Kriegsversehrten – es werden immer mehr"
- euromaidanpress.com: "Ukrainian Paralympians push through loss and devastation to make history in Paris" (Englisch)
- tagesspiegel.de: "Ukraine-Invasion, Tag 912 – Wie die Ukraine um Erfolge bei den Paralympics kämpft"
- thetimes.com: "'Our Paralympic centre was best in world – now it's occupied by Putin'" (Englisch)