Fußball Fassade oder Realität: "Rossija" als großer WM-Gewinner
Moskau (dpa) - "Rossija, Rossija" - auf der Bühne des altehrwürdigen Bolschoi-Theaters stimmte Gianni Infantino an der Seite von Wladimir Putin den Schlachtruf der russischen Fußball-Fans an.
Nicht nur durch die nächste kritiklose Anbiederung des FIFA-Präsidenten bei dem Gala-Abend darf sich der Gastgeber als großer Gewinner dieser WM der großen sportlichen Überraschungen fühlen. Trotz aller Bedenken zu Hooligans, Sicherheit und der Qualität der Sbornaja vor dem Turnier hat Russland bewiesen, dass es auch das große Fußball-Fest mit mehr als einer Million ausländischer Fans ausrichten kann. "Wir sind froh, dass unsere Gäste alles mit eigenen Augen gesehen haben, dass ihre Mythen und Vorurteile zerbrochen sind", schwärmte Putin.
Doch wie bei den Winterspielen von Sotschi 2014, die letztendlich als Olympia des Staatsdopings in die Geschichtsbücher eingehen, sind sich Experten sicher, dass das propagierte Bild der offenen Gesellschaft nicht dauerhaft bestehen bleibt. Was war Fassade, was ist Realität? Und auch das sportliche Vermächtnis des Turniers, bei dem Titelverteidiger aus Deutschland so schmerzhaft entthront wurde, bleibt noch vage: Der Videobeweis hat sich auf der größten Bühne bewährt und wird dauerhaft bleiben. Aber ist die große Zeit der Megastars wie Lionel Messi, Cristiano Ronaldo und Neymar endgültig vorbei - und eine neue Ära des Teamfußballs angebrochen?
"Vielleicht war das eine der seltsamsten Weltmeisterschaften", sagte der kroatische Trainer Zlatko Dalic als Resümee. "Der Fußball hat sich so sehr weiterentwickelt, dass jedes Team die richtige Defensivorganisation hat. Einzelne können nicht mehr alles lösen. Die WM war gerecht zu Teams, die als Gemeinschaft aufgetreten sind."
Spielerisch konnte die WM nicht mit dem Jogo Bonito, dem schönen Spiel, von Brasilien 2014 mithalten. Zu abgeklärt verteidigen inzwischen fast alle Mannschaften, Pragmatismus und Leidenschaft haben fußballerische Hochkultur abgelöst. Die meisten Elfmeter der WM-Geschichte und ein Rekord von Standardtoren sind Ausweis dieses Trends. Weder Messi noch Ronaldo konnten ihre Teams über das Achtelfinale hinaus tragen, für Neymar blieb nach seinen Schauspieleinlagen nur Spott und Hohn.
Das Team von Bundestrainer Joachim Löw scheiterte an seiner mangelnden Chancenverwertung, im Gegensatz dazu schaffte es der Gastgeber als dauerlaufendes Kollektiv bis ins Viertelfinale. "Wir hoffen, dass in Russland eine neue Epoche beginnt", sagte Nationaltrainer Stanislaw Tschertschessow zum unerwarteten Erfolg. "Alle wollen Fußball spielen."
Auf Doping-Fragen angesichts fabelhafter Lauf- und Sprintwerte reagierte der frühere Bundesliga-Torwart ausweichend oder verärgert. Der Weltverband FIFA rühmte sich des "größten Programms" zur Dopingbekämpfung in der WM-Geschichte, steht aber wegen mangelnder Transparenz in der Kritik von Experten.
Auch die Stadion-Auslastung von 98 Prozent, der sich die Organisatoren rühmen, bedarf einer Einordnung. In absoluten Zahlen waren so wenige Zuschauer wie seit der WM 2002 in Japan und Südkorea nicht mehr in den Arenen. Dennoch erhielt das Turnier von Infantino das größtmögliche Prädikat: "Beste WM aller Zeiten".
Die Anstrengungen des Gastgebers für ein solch makelloses Bild waren beispiellos: Nach Schätzungen der Wirtschaftszeitung RBK investierte Russland mehr als 14 Milliarden US-Dollar in die WM. Fast 100 Trainingsplätze wurden angelegt, 7 der 12 Stadien wurden neu gebaut, die übrigen aufwendig renoviert. Doch ob viele der Glitzer-Arenen auch nach der WM noch ausverkauft sein werden, bleibt fraglich. Fast die Hälfte der Stadien sind die Heimat von Zweitligisten, in Sotschi wurde extra ein Club geschaffen, der im Fischt-Stadion spielt.
Mit der herzlichen Gastfreundschaft begeisterten die russischen Menschen die zahlreichen ausländischen Fans, die vermehrt aus Latein- und Südamerika und weniger aus Europa kamen. So wurden nur 29 000 Fan-IDs an Besucher aus Deutschland verteilt, Platz acht des Länder-Rankings. "Die Wahrnehmung von Russland im Ausland hat sich geändert", sagte WM-Cheforganisator Alexej Sorokin. "Wir können Fußball spielen, wir können Events gut organisieren." In Anlehnung an Ex-US-Präsident Barack Obama ergänzte er: "We can." ("Wir können.")
Der Experte Andrej Kolesnikow vom Carnegie-Zentrum in Moskau glaubt jedoch, dass die WM keinen langfristigen politischen Effekt haben wird. "Dies ist nur Fußball, es bringt kein demokratisches Denken", sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Die Russen würden durch die WM nicht freier, Polizisten nicht freundlicher. Am Ende finde sich jeder in die Realität wieder, "inmitten einer weiteren Putin-Amtszeit".
Und auch das Fazit von Menschenrechtlern fällt wenig euphorisch aus. So durfte beispielsweise Tschetscheniens autoritärer Republikchef Ramsan Kadyrow den ägyptischen Superstar Mohamed Salah vereinnahmen. "Die WM war sicherlich die beste WM für Ramsan Kadyrow und Wladimir Putin", sagte Direktorin Minky Worden von der Organisation Human Rights Watch der Nachrichtenagentur AP. "Aber sicher nicht für die Menschenrechte." Dieses Thema bleibt dem Fußball auch durch den kommenden WM-Gastgeber Katar dauerhaft erhalten.