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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Kritik an Krone-Schmalz "Russland-Kitsch, der politisch blind macht"
In einem Vortrag bei der VHS Reutlingen verbreitet Gabriele Krone-Schmalz fragwürdige Thesen zu Russland und der Ukraine. Klaus Gestwa entsetzt das.
Der Auftritt der ehemaligen Moskau-Korrespondentin Gabriele Krone-Schmalz bei der Volkshochschule (VHS) in Reutlingen geht derzeit auf YouTube viral. Mehr als eine Million mal wurde das Video inzwischen auf dem Kanal der VHS angesehen. Viele Kommentatoren feiern die "andere Perspektive", die die Journalistin in den rund eineinhalb Stunden aufzeigt. Doch Osteuropa-Experten sehen die Person und ihre Inhalte mehr als nur kritisch.
Einer von ihnen ist Prof. Klaus Gestwa von der Universität Tübingen, die nur rund zehn Kilometer von Reutlingen entfernt liegt. Mit den Worten "Zu Gabriele Krone-Schmalz gibt es so viel zu sagen, um vor ihrer manipulativen Art zu warnen", erklärte er sich zu einem Interview mit t-online bereit.
Auf ganz eindrückliche Art nimmt er darin die Kernargumente von Krone-Schmalz auseinander. Auch an der VHS Reutlingen lässt er kaum ein gutes Wort.
t-online: Herr Prof. Gestwa, wie bewerten Sie den Vortrag von Gabriele Krone-Schmalz in Reutlingen und dass er von der VHS auf YouTube veröffentlicht wurde?
Prof. Klaus Gestwa: Der Vortrag von Gabriele Krone-Schmalz ist mittlerweile 790.000 Mal aufgerufen worden. Wenn es der VHS um Reichweite ging, dann dürften sich die Verantwortlichen auf die Schulter klopfen. Dafür ist dann ihre politische Verantwortung auf der Strecke geblieben. Wir können seit Jahren die Strategie der Schuldlastumkehr beobachten, die darauf zielt, nicht Putins Russland als den Ausgangspunkt von Aggressionen und den seit 2014 stattfindenden Krieg gegen die Ukraine auszumachen, sondern die Schuld dafür stattdessen der Ukraine und dem Westen zuzuweisen. Das ist genau das, was der Kreml, der mit seinen Trojanischen Pferden schon seit Langem die europäische, vor allem die deutsche Politik beeinflusst, erreichen will.
Klaus Gestwa
Prof. Dr. Klaus Gestwa ist seit 2009 der Direktor des Instituts für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde an der Eberhard Karls Universität in Tübingen. Er forscht zur Zeitgeschichte Russlands und der Ukraine. Während der vergangenen Jahre war er an mehreren internationalen Forschungsprojekten mit russischen und ukrainischen Kolleginnen und Kollegen beteiligt. Bis zum Ausbruch der Corona-Epidemie war er regelmäßig zu Forschungsaufenthalten sowohl in Russland als auch in der Ukraine.
Können Sie das konkretisieren?
Gabriele Krone-Schmalz verbreitet seit Jahren die politisch bedenkliche Mär, der Westen habe stets "Putins ausgestreckte Hand zurückgewiesen" und Russland "nicht auf Augenhöhe behandelt". Dann wird die Annexion der Krim mal schnell als politische "Notwehr unter Zeitdruck" gerechtfertigt. Die Kritik an der großen Empathie von Krone-Schmalz für die russische Politik und die Blindheit gegenüber deren zunehmenden Konfrontations- und Kriegskurs ist weithin bekannt. Sie kommt nicht nur aus den Reihen der Wissenschaft, sondern auch von vielen Journalisten, an deren Arbeit Krone-Schmalz seit Jahren auch kein gutes Haar lässt, obwohl es in unseren Qualitätsmedien doch vielfach eine gute Berichterstattung gibt. Kollegen-Bashing gehört zum rhetorischen Grundinventar von Gabriele Krone-Schmalz.
Die Nähe zu den russischen Narrativen hat Gabriele Krone-Schmalz in den Medien und im Internet den Ruf einer Kremlapologetin eingebracht. Diese Kritik war der VHS in Reutlingen bekannt. Sie hatte aber schon vor einem Jahr Krone-Schmalz zu einem Vortrag eingeladen. Wir haben es also mit einem Wiederholungsfall zu tun.
"Ärgerlich sind nicht nur die bedenklichen Narrative, sondern auch, wie sie von der VHS zelebriert wird"
Prof. Klaus Gestwa
Was genau kritisieren Sie nun an dem Vortrag in Reutlingen?
Ärgerlich sind nicht nur die bedenklichen Narrative, die Gabriele Krone-Schmalz verbreitet, sondern auch, wie sie vonseiten der VHS zelebriert worden ist. Der Leiter der VHS fällt in seiner Einleitung gleich mit einem merkwürdigen Vergleich auf, indem er Putin mit einem Bankräuber vergleicht, der in der gegenüberliegenden Sparkasse Geiseln erschießt und droht, die Stadt in die Luft zu sprengen. Deshalb müsse man die Gründe seines Überfalls analysieren und verstehen, um deeskalieren zu können. Vergleiche hinken immer, dieser aber besonders. Ich dachte immer, Bankräuber werden verhaftet und verurteilt.
- Kritik an Krone-Schmalz: Volkshochschul-Vortrag empört Russland-Experten
Im weiteren Verlauf des Vortrags von Krone-Schmalz geht es dann aber darum, Putin einen "gesichtswahrenden Ausweg" aufzuzeigen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Reutlinger Polizei das für eine richtig gute Idee hält.
Wenn am Ende der VHS-Leiter dann Gabriele Krone-Schmalz für die "Differenzierung" des deutschen Diskurses dankt und sie dazu auffordert, damit weiterzumachen trotz aller "Anfeindungen" und Proteste, dann wird damit genau die Opferrolle betont, die sich Krone-Schmalz immer selbst bescheinigt, wenn sie die vermeintlich zu "engen Meinungskorridore" in Deutschland beschwört und für sich mehr Respekt einfordert. Wer eine umstrittene Person zum Vortrag einlädt, sollte dieser nicht eine große öffentliche Bühne zur Selbstinszenierung bieten, sondern die diskutablen Aussagen kritisch begleiten. Im Fall der VHS Reutlingen gab es vor allem Lobhudelei. Das wirft Fragen auf.
"Sie publiziert zwar Bücher, deren Inhalte aber frag- bis merkwürdig sind und keinerlei wissenschaftlichen Standards gerecht werden."
Prof. Klaus Gestwa
Also ist Krone-Schmalz gar keine Expertin zum Themenkomplex Russland/Ukraine?
Nein, das ist sie eigentlich nicht. Sie publiziert zwar Bücher, deren Inhalte aber frag- bis merkwürdig sind und keinerlei wissenschaftlichen Standards gerecht werden. Sie hat auch noch nie in einer Zeitschrift der Osteuropa-Forschung einen Artikel publiziert. Damit ist sie faktisch nicht Teil der akademischen Fach-Community. Ihre Bücher beruhen auch nicht auf der sorgsamen Analyse und Auseinandersetzung des Forschungsstands. Hin und wieder wird feigenblattmäßig ein Fachbuch im seltsam anmutenden Fußnotenapparat angeführt. Ansonsten wird im Blindflug über die wichtigen Fachorgane hinweggegangen. Das merken allerdings nur diejenigen, die aus dem Fach kommen.
Ihren Professorentitel hat Krone-Schmalz auch nicht mit einer Habilitation in der Osteuropa-Forschung und den entsprechenden einschlägigen Publikationen erworben, sondern an der Privaten Hochschule in Iserlohn für TV und Journalistik, Business and Information Technology School (BiTS) erhalten.
Promoviert hat Gabriele Krone-Schmalz vor langer Zeit mit einer dünnen Studie zum Russlandbild in deutschen Schulbüchern. Das war damals kein Thema, mit dessen Bearbeitung Gabriele Krone-Schmalz innerhalb der Osteuropa-Forschung einen Akzent setzen konnte. Ich habe diese Dissertation auch noch nie zitiert gesehen.
Also beruht ihre Expertise auf ihrer Korrespondenten-Tätigkeit in Moskau …
Journalistisch ist Gabriele Krone-Schmalz seit den 1990er-Jahren nicht mehr in Russland und in Osteuropa tätig. Sie zehrt allein von ihrem Ruhm, als sie in den Perestrojka-Jahren erste Moskau-Korrespondentin der ARD war. Sie ist seit 2000 zunächst im von Putin und Schröder aus dem Boden gestampften Petersburger Dialog und einige Jahre später im Deutsch-Russischen Forum aktiv gewesen. Das sind beides Institutionen, die für ihre wenig kritische Haltung gegenüber dem Kreml seit Jahren heftig in der Kritik stehen. Daraus lässt sich aber auch kein Expertenstatus ableiten, es sei denn der für das "russische Seelenbefinden" und die neoimperialen Neurosen des Kremls.
Aber benennt sie nicht auch richtige und wichtige Punkte?
Gabriele Krone-Schmalz gefällt sich als politische Influencerin, die ihr publizistisches Geschäftsmodell darin gefunden hat, die russische Kriegspolitik zu erklären und dabei auf die notwendige kritische Distanz und Reflexion verzichtet oder diese nur publikumswirksam vorgibt. Wer sich die Mühe macht, die Argumentationsstrategie von Krone-Schmalz zu Ende zu denken, wird erkennen, dass daran kaum etwas richtig und wichtig ist.
"Die Annexion der Krim war natürlich keine "Notwehr" eines bedrängten Russlands, sondern ein hinterhältiger Überfall auf ein souveränes europäisches Land"
Prof. Klaus Gestwa
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Die Annexion der Krim war natürlich keine "Notwehr" eines bedrängten Russlands, sondern ein hinterhältiger Überfall auf ein souveränes europäisches Land, der zum Auftakt für einen großen Krieg wurde, der darauf zielt, die nach 1991 entstandene Sicherheitsordnung aus den Fugen geraten zu lassen. Wenn Souveränität und Grenzen nicht mehr zählen und militärischer Landraub als internationale Praxis toleriert wird, haben wir bald überall Krieg. Kritische Experten durchschauen diese Zusammenhänge, während Gabriele Krone-Schmalz bei ihrem Versuch, den Kreml zu verstehen, schließlich beim Verständnis für den Kreml landet.
Was genau ist denn so problematisch an ihr?
Gabriele Krone-Schmalz weiß, sich öffentlich zu inszenieren. Sie präsentiert sich als Verteidigerin von Meinungsvielfalt und Differenzierung, als die mutige Gegenstromanlage im angeblich verengten politischen Mainstream. Sie identifiziert vermeintliche Probleme, die der Westen so nicht sieht, die sich ihr aber allein erschlossen haben. Das ist eine gerissene Taktik, sich auf Kosten anderer zur Welterklärerin zu erheben. Dabei sind viele Punkte, die sie nennt, seit Langem Teil der Forschung und der politischen Auseinandersetzung.
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Zu ihren publizistischen Taschenspielertricks gehört es auch, Zweifel zu säen. Beim Abschuss des Passagierflugzeugs MH17 im Juli 2014 und dem Nowitschok-Anschlag auf die Skripals 2018 wandte sie sich immer empört gegen eine Vorverurteilung Russlands und wiederholte die Entlastungsargumente des Kremls, um diesen damit aus der Schusslinie zu nehmen. Mittlerweile wissen wir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, was passiert ist und wie sehr Gabriele Krone-Schmalz mit ihren früheren Aussagen heute im Regen steht.
Und wie schafft sie es, dennoch so erfolgreich zu sein?
Gabriele Krone-Schmalz bedient geschickt den deutschen "Russland-Komplex" (Gerd Koenen) und mischt mächtig mit beim "Russland-Kitsch" (Karl Schlögel), der politisch blind macht. Zu ihrem publizistischen Geschäftsmodell gehören ein eingängiger Anti-Amerikanismus und eine wenig reflektierte Kritik an der Nato und EU. Damit spricht Krone-Schmalz viele an, um zugleich zu kaschieren, dass mit ihren Aussagen Putins Tiraden über den "kollektiven Westen" und die fortgesetzte Erniedrigung Russlands der Weg in die deutsche Öffentlichkeit bereitet wird. Das garniert sie mit der Aussage, dass nicht alles falsch und Propaganda sei, was in Moskau gesagt werde.
Vielen, die sich politisch wenig in Osteuropa auskennen, fällt es schwer, hinter diese Maske der inszenierten Professionalität und Seriosität zu schauen. Besonders hellhörig sollten die Zuhörenden werden, wenn Krone-Schmalz ihre Ausführungen mit dem Halbsatz einleitet: "Ich will hier nicht Putin verteidigen, aber …". Dann macht sie stattdessen die Ukraine oder den Westen für die Eskalation verantwortlich, sodass die Schuldzuweisung an Moskau komplett vorbeigeht.
Wer diese Taktiken des "blame game" von Gabriele Krone-Schmalz durchschaut, dem fallen die evidenten Widersprüche und Auslassungen auf. Es gibt engagierte Kollegen, allen voran Franziska Davies und Matthäus Wehowski, die sich auf Twitter die Mühe machen, die Vorträge von Gabriele Krone-Schmalz durchzugehen und über die Falschaussagen aufzuklären. Viele schreiben, dass sie sehr dankbar für diese wirklichen Analysen seien. Ihnen sei es nun peinlich, dass sie sie lange Zeit für eine Expertin gehalten hätten.
Was sind inhaltliche Schwächen an der Argumentation bzw. dem Vortrag von Frau Krone-Schmalz?
Hochproblematisch ist vor allem, dass Gabriele Krone-Schmalz viele Fakten verzerrt darstellt, um sie für ihr Narrativ passend zu machen. Daraus ergeben sich bedenkliche interpretative Schieflagen und sogar gefährliche Desinformationen. Ihre Darstellung des ukrainischen Euro-Maidans 2013/2014 zielt vor allem auf Diskreditierung, indem manche Aspekte überzogen werden und andere unerwähnt bleiben. Sie übergeht, dass es sich beim Euro-Maidan um die größte demokratische Massenbewegung in Europa seit dem Ende des Sowjetimperiums handelte.
"Sie beklagt die" Dämonisierung Russlands" und ergeht sich dabei in einer "Dämonisierung der Ukraine" "
Prof. Klaus Gestwa
Sie nimmt in ihren Büchern auch die internationalen Forschungen zum Rechtsextremismus in der Ukraine nicht angemessen zur Kenntnis. Das hat zur Folge, dass sie die Bedeutung rechtsradikaler Kräfte überzeichnet. Sie beklagt die "Dämonisierung Russlands" und ergeht sich dabei in einer "Dämonisierung der Ukraine". Ihre Strategie ist klar: den Euro-Maidan zu verteufeln, um die russische Krim-Annexion als den eigentlichen Völkerrechts- und Tabubruch relativieren zu können. Weil vielen Deutschen Russland vertrauter und wichtiger erscheint als die Ukraine, die oft nur als Hinterhof Russlands gesehen wird, zieht das leider auch.
Den Donbass-Krieg, der zwischen 2014 und 2022 knapp 14.000 Menschen das Leben kostete, verdreht Krone-Schmalz derart, als sei die Ukraine in die eigentlich ukrainische Region einmarschiert und hätte damit Tod und Zerstörung über die Menschen gebracht. Dabei handelte es sich hier um eine militärische Intervention von Russland aus, um die beiden ausgerufenen "Volksrepubliken Donezk und Luhansk" zum Hebel für Moskau zu machen, um jederzeit Druck auf die Ukraine ausüben zu können. Die Verantwortlichen machen daraus längst keinen Hehl mehr und schildern freimütig, wie sie die gesamte Ostukraine in eine Kampfzone verwandelt haben.
Wie sieht es heute aus?
Selbst heute vermittelt Gabriele Krone-Schmalz in ihrer Darstellung der politischen Ereignisse kein adäquates Bild davon, dass die Ukraine ein brutal überfallenes und schwer verwundetes Land ist, dessen demokratisches Staatswesen und europäische Nation von Moskau aus zerstört werden soll. Gabriele Krone-Schmalz bleibt die Ukraine fremd; dementsprechend befremdlich fällt ihre Sicht auf dieses Land aus.
Für die berechtigten Sicherheitsinteressen und die Souveränitätsrechte der ostmitteleuropäischen Staaten fehlt Gabriele Krone-Schmalz gleichfalls jegliches Gespür. Ostmitteleuropa erscheint bei ihr als "Troublemaker" und die Ukraine als bloße Pufferzone, deren Teilung eine Möglichkeit darstellt, um Putin einen "gesichtswahrenden Ausweg" aufzuzeigen. Es drängt sich der fatale Eindruck auf, dass Gabriele Krone-Schmalz auf dem Friedensaltar der deutsch-russischen Freundschaft bereit ist, die Interessen und Rechte der Ukraine sowie anderer ostmitteleuropäischer Staaten zu opfern. Das aber hätte weitreichende Folgen für die gesamte Politik des 21. Jahrhunderts, die Gabriele Krone-Schmalz aber leider nicht mitbedenkt. Die Lektüre der Werke von Timothy Snyder und Karl Schlögel könnten hier für die dringend benötigte Nachhilfe sorgen.
Außerdem blendet Gabriele Krone-Schmalz bei ihrer Schuldzuweisung Richtung Westen den seit 2012 immer klarer zu erkennenden Gleichschritt zwischen innerer Repression, militärisch-patriotischer Dressur und äußerer Aggression in Russland aus.
Gabriele Krone-Schmalz greift immer zu dem rhetorischen Kniff zu konstatieren, dass die Dinge nicht so einfach seien, um als die große Differenziererin aufzutreten, es aber dann selbst unterlässt, den komplexen Sachverhalten weiter nachzugehen. So fordert sie die unvoreingenommene Analyse des russischen Diskurses. Wie kann sie denn dann übersehen, dass Putin in seinen Reden und Schriften wiederholt der Ukraine das Existenzrecht abgesprochen hat und diesem Staat nicht nur sein Land, sondern auch seine Geschichte rauben will?
Das demonstriert die russische Okkupationsmacht in den besetzten ukrainischen Gebieten doch gerade in erschreckender Weise. In seinen neoimperialen Obsessionen bezeichnet Putin die Ukraine sogar als "Antirussland". Wenn Gabriele Krone-Schmalz auf die Frage, was Moskau unter "Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine" verstehe, antwortet, das wisse sie auch nicht, und sodann über die "nationalistischen Kräfte in der Ukraine" zu raunen beginnt, dann verdrängt sie, dass es Putin mit dem Einmarsch seiner Truppen um die Entukrainisierung des östlichen Europas geht. Von diesem zerstörerischen Maximalziel rückt Putin bis heute nicht ab. Und genau deshalb sind aktuell keine diplomatischen Initiativen möglich.
Mehrere Wissenschaftler versuchten, den Vortrag von Gabriele Krone-Schmalz bei der VHS Reutlingen zu verhindern. Sie auch?
Ich habe im Sommer erfahren, dass Gabriele Krone-Schmalz wieder in der VHS in Reutlingen vortragen wird. Als es dann eine kritische Berichterstattung zu ihrem Auftritt in Marburg gab, der zu einem lokalen Politikum wurde, und auch der Beck-Verlag zu seiner Autorin Krone-Schmalz auf Distanz ging, weil deren letzte Russlandbücher nach dem 24. Februar 2022 zynisch wirken, habe ich es als meine Aufgabe gesehen, in einer Mail die Leitung der VHS darauf aufmerksam, wen sie sich mit Gabriele Krone-Schmalz eingekauft haben und wie umstritten diese Person ist.
Die Mailkorrespondenz gestaltete sich allerdings wenig erfreulich. Ich musste feststellen, dass die VHS weiß, was sie tut. Im Vorfeld des Vortrags von Gabriele Krone-Schmalz gab es dann auf Twitter viel Kritik an der VHS Reutlingen. Das zeigte mir, dass mein Unbehagen weithin geteilt wird, gerade in Fach- und Medienkreisen.
"'Cancel Culture' ist oftmals das Wutgeheul derjenigen, die für ihren offensichtlichen Unsinn öffentliche Kritik ernten"
Prof. Klaus Gestwa
"Cancel Culture" ist oftmals das Wutgeheul derjenigen, die für ihren offensichtlichen Unsinn öffentliche Kritik ernten. Der Leiter der VHS Reutlingen sollte sich lieber Gedanken darüber machen, welche Gefahren von Gabriele Krone-Schmalz' Narrativen für unsere Demokratie und besonders für die Ukraine ausgehen. Wenn diese dann auch noch wohltönend verkauft werden als ein Nachdenken über friedliche Lösungen, dann wird natürlich die entscheidende Frage verdrängt, inwieweit mit solchen Auftritten nicht nolens volens die politischen Geschäfte des Kremls mitbetrieben werden.
Der Leiter der VHS Reutlingen rechtfertigt den Vortrag damit, dass es wichtig sei, eine gewisse Meinungsvielfalt abzubilden – er wähnt gar die Demokratie in Gefahr, würde man der "Cancel Culture" nachgeben. Wie stehen Sie zu dieser Argumentation?
Ich hätte es gut gefunden, Gabriele Krone-Schmalz mit Stimmen aus der Ukraine zu konfrontieren. Dass ihre Aussagen von den Betroffenen als politischer Affront verstanden werden, hätte sich dann vielen Zuhörenden erschlossen. Aber die Chance zum kritischen Diskurs hat die VHS Reutlingen leichtfertig verspielt, obwohl sie aktiv damit beschäftigt ist, sich um geflüchtete Menschen aus der Ukraine zu kümmern. Stattdessen haben sich die Verantwortlichen damit begnügt, einer umstrittenen Publizistin die Bühne zu bieten, sie zu hofieren und ihr auch noch im Internet zu Reichweite zu verhelfen.
Ist das denn überhaupt ein Thema für eine Volkshochschule?
Politische Themen gehören natürlich in die VHS, aktuell gerade auch Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Aus dem Bereich des Journalismus fallen einem gleich mehrere Namen von Korrespondenten ein, die aus eigener Inaugenscheinnahme aus Russland und der Ukraine berichten können. Viele von ihnen – Katrin Eigendorf, Sabine Adler, Katja Gloger, Udo Lielischkies, um nur ein paar Namen zu nennen – haben zuletzt spannende Bücher veröffentlicht. Die Auseinandersetzung mit ihnen lohnt sich allemal mehr als mit Gabriele Krone-Schmalz, die auch nach dem 24. Februar 2022 an ihren Narrativen und ihrem einträglichen publizistischen Geschäftsmodell festhält.
"Dann erweist sich der vorgeschlagene 'gesichtswahrende Ausweg' für Putin als das, was er ist: nämlich als brandgefährlicher Irrweg"
Prof. Klaus Gestwa
Wir Deutschen neigen dazu, vor allem über die Ukraine zu reden, aber die Menschen aus der Ukraine viel zu selten zu Wort kommen zu lassen. Die VHS scheint genau der richtige Ort zu sein, daran etwas verändern. Wir sollten verstärkt darauf hören, was Ukrainer unter Frieden und Freiheit verstehen. Dann erweist sich der von Gabriele Krone-Schmalz vorgeschlagene "gesichtswahrende Ausweg" für Putin als das, was er ist: nämlich als brandgefährlicher Irrweg.
Und der VHS-Leiter würde bei seinem schrägen Bankraub-Vergleich auch mal auf die Idee kommen, nicht nur dem Geiselnehmer, sondern auch den Geiseln Gehör zu schenken. Das scheint mir dringend geboten zu sein, damit solche abgehobenen Friedensspekulationen, wie sie in Reutlingen geäußert worden sind, wieder stärker an die politischen Realitäten in der vom Krieg verwüsteten und im Überlebenskampf befindlichen Ukraine zurückgebunden werden.
Vielen Dank für das Gespräch!
- Interview mit Prof. Klaus Gestwa von der Universität Tübingen