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Streit um Gasstopp: "Abstiegsszenario" für Bayern? Expertin kontert Söder


Streit um russischen Gasstopp
"Abstiegsszenario" für Bayern? Expertin kontert Söders Vorstoß

InterviewVon Jennifer Lichnau

Aktualisiert am 06.04.2022Lesedauer: 4 Min.
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Markus Söder und Claudia Kemfert (Montage): Die Ökonomin sieht die Bilanz des bayerischen Ministerpräsidenten kritisch.Vergrößern des Bildes
Markus Söder und Claudia Kemfert (Montage): Die Ökonomin sieht die Bilanz des bayerischen Ministerpräsidenten kritisch. (Quelle: Montage/imago-images-bilder)

Was passiert, wenn plötzlich kein Gas mehr aus Russland fließt? Bayerns Ministerpräsident Söder will das verhindern. Er fürchtet um die heimische Wirtschaft. Dabei sind seine Sorgen hausgemacht – sagt die Ökonomin Claudia Kemfert.

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder befürchtet Standortnachteile für sein Bundesland und wehrt sich gegen einen schnellen Importstopp von russischem Gas. Dabei ist er selbst schuld daran, dass Bayern kein attraktiver Wirtschaftsstandort ist. Im Interview mit t-online erklärt Claudia Kemfert vom Institut für Deutsche Wirtschaftsforschung (DIW), weshalb Söder aus ihrer Sicht falsch liegt – und wo er einen Denkfehler macht.

Frau Professorin Kemfert, Söder warnt vor einem sofortigen Importstopp von russischem Gas. Zu Recht?

Nein. Wir brauchen weder Gas noch Öl oder Kohle aus Russland, um in Deutschland eine Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Um die Gasversorgung zu sichern, müssen und können wir das Gas aus anderen Ländern beziehen und den Gasverbrauch reduzieren. Das haben wir in mehreren Studien nachgewiesen. Söder befürchtet wirtschaftliche Einbußen, aber die entstehen nicht durch fehlendes Gas aus Russland, sondern durch den Krieg gegen die Ukraine.

Warum wehren sich Söder und andere Politiker dann dagegen?

Deutschland und insbesondere Bayern haben sich nicht nur von fossiler Energie abhängig gemacht, sondern vor allem die Energiewende verschleppt. Dafür zahlen wir jetzt den Preis. Bayern hat auf Gas als Brückentechnologie gesetzt. Ein Fehler, den das DIW bereits lange kritisiert. Gas war schon die letzten zehn Jahre nur eine Brücke ins Nichts.

Claudia Kemfert ist Professorin für Energiewirtschaft und Energiepolitik, gehört zu Deutschlands Spitzenforscherinnen und berät die Bundesregierung in Umweltfragen. Am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung leitet sie die Abteilung Energie, Verkehr und Umwelt.

Söder muss also keinen Standortnachteil für Bayern befürchten, wenn kein russisches Gas mehr fließt?

Bayern hat einen Standortnachteil – und zwar durch die schleppend vorangetriebene Energiewende. Unternehmen wie Tesla siedeln sich aus guten Gründen dort an, wo der Anteil von Ökostrom aus Wind und Sonne besonders hoch ist. Ökostrom wird zum entscheidenden Standortortsfaktor. Und leider gibt es den derzeit nicht in Bayern.

Durch einen Importstopp für russisches Gas droht also kein "Abstiegsszenario", wie es Söder prophezeit?

Das Abstiegsszenario gibt es garantiert, wenn wir weiter Energie aus Russland beziehen. Der Krieg muss so schnell wie möglich beendet werden. Das geht nur, indem wir Druck auf Putin ausüben und uns unabhängig von Russlands fossilen Energieexporten machen. So schnell wie möglich.

Wie kann das gelingen?

Je länger wir die Energiewende schieben, desto schlimmer wird es. Bayern braucht einen viel schnelleren Ausbau aller erneuerbaren Energien, allen voran Windenergie. Und es muss mehr Energie eingespart werden. Die bayerische Regierung hat es selbst in der Hand: Weg mit den pauschalen Abstandsregeln für Windenergie in Bayern, und zwar sofort. Dann klappt es auch mit den zukunftsorientierten Investoren.

Was bedeutet Energiesparen konkret? Müssen wir frieren?

Nein, frieren müssen wir nicht. Klar denkt jeder erst mal an die eigene Heizung. Und es ist auf jeden Fall richtig, zwei Grad runterzudrehen, um Energie zu sparen. Aber betroffen ist vor allem die Industrie, die in Bayern ja stark vertreten ist. Die Möglichkeiten der Energieeffizienz sind hier noch lange nicht ausgeschöpft. Deswegen gilt es, auch dort in Energiesparmaßnahmen und in die Abkehr von fossiler Energie hin zu erneuerbaren Energien zu investieren.

Anstatt von Energiewende spricht Söder davon, die Atomkraftwerke in Deutschland länger laufen zu lassen. Halten Sie das für sinnvoll?

Überhaupt nicht. Atomkraft ist energiewirtschaftlich unnötig und sicherheitspolitisch fragwürdig. Die sechs Prozent Strom, die die Atomkraftwerke noch produzieren, brauchen wir nicht. Wir haben keine Stromknappheit und können diese Kraftwerke leicht kompensieren. Derzeit reden wir über Gas und Öl. Beides brauchen wir für die Wärmeversorgung von Gebäuden und für die Industrie.

Da helfen Atomkraftwerke nicht. Zudem sind in Kriegszeiten Atomkraftwerke ohnehin keine gute Idee. Gar nicht unbedingt wegen direkter Bombenangriffen, sondern beispielsweise wegen der bereits angedrohten Cyberangriffe. In solch extremen Krisensituationen müssen wir so was mehr denn je im Blick behalten.

Ganz zu schweigen von den enormen Kosten, die entstehen, wenn die Atomkraftwerke länger laufen: zusätzliches Personal, der kurzfristige Kauf von Uran und die Wartung der auf Abschaltung ausgerichteten Anlagen. Das Geld dafür sollte man besser in Energiespeicher und erneuerbare Energien investieren.

Atomkraftwerke sind also keine Lösung bei einem Importstopp. Was dann?

Die Lösung heißt "ASSA-Kombination": ausweichen, speichern, sparen, ausbauen. Es geht um die zügige Kombination von vier Maßnahmen. Gas, Öl und Kohle gibt es auch aus anderen Lieferländern. Auf sie können wir ausweichen. Die Gasversorgung muss und kann im europäischen Verbund erfolgen. Jetzt wo der Winter zu Ende geht, können wir den Sommer nutzen, um die Speicher zu füllen.

Parallel können wir kurzfristig Energiesparmaßnahmen auf den Weg bringen. Es gibt viele einfache Ideen und Wege. Und zugleich müssen wir die erneuerbaren Energien endlich schneller auszubauen. So leiten wir kurzfristig die Abkehr von fossiler Energie ein. Das geht nicht bis zum nächsten Winter. Aber wann wollen wir anfangen, wenn nicht jetzt?

Das sind mittel- oder langfristige Lösungen. Was muss jetzt passieren?

Die ASSA-Kombination muss jetzt beginnen. Sofort. Die Uhr tickt. Es gilt, so schnell wie möglich keine Geschäfte mehr mit Russland zu machen. Ausweichen, speichern und sparen, das müssen und können wir heute beginnen. Besser noch gestern! Und die erneuerbaren Energien auszubauen, dürfen wir auch nicht länger verschieben. Wir brauchen mindestens eine Vervierfachung des Ausbautempos.

Also Vollgas auf allen Ebenen: Gesetze anpassen, Investitionen in die energetische Gebäudesanierung und in die klimaneutrale Industrie fördern, Fachpersonal ausbilden, Verkehrswende einläuten, und zwar im Lauftempo. Jetzt heißt es Anpacken statt Sonntagsreden.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Claudia Kemfert
  • Eigene Recherche
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