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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Nach der Demo in Leipzig Radikalisiert sich die "Querdenker"-Bewegung?
Tausende Menschen haben in Leipzig auf der Demonstration der "Querdenker" demonstriert. Doch was wollen die Demoteilnehmer eigentlich – abseits von einem Ende der Corona-Maßnahmen?
Am vergangenen Wochenende trafen sich Tausende Teilnehmer zur Demonstration der "Querdenken"-Bewegung in Leipzig um gegen die geltenden Corona-Maßnahmen zu protestieren. Die Polizei geht von 20.000 Personen aus – die Forschungsgruppe "Durchgezählt" der Universität Leipzig schätzt die Anzahl auf mindestens 45.000 Menschen. t-online hat mit Clara Schließler, Sozialpsychologin am Else-Frenkel-Brunswick-Institut für Demokratieforschung der Universität Leipzig gesprochen, um die Bewegung besser zu verstehen.
t-online: Frau Schließler, welchen Stellenwert hat die Demo am 7. November in Leipzig für die "Querdenken"-Bewegung gehabt?
Clara Schließler: Die Demonstration hatte eine besondere Bedeutung für die Bewegung. Indem die Einladenden sich die historischen Ereignisse und Orte der Friedlichen Revolution 1989 zunutze gemacht haben, haben sie versucht sich selbst zu legitimieren. Das gewählte historische Vorbild ist gesellschaftlich als friedliche Bewegung akzeptiert. Die Symbolkraft des Zuges über den Innenstadtring ist nicht zu unterschätzen.
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Dass es den Demonstrierenden gelungen ist, sich trotz Polizei den Weg auf dem Innenstadtring zu "erobern", produziert – ähnlich wie das unerlaubte Demonstrieren auf der Treppe des Reichstagsgebäudes – Bilder und Gefühle, die die Bewegung als Ganzes weiter stärken. Auch wenn viele Teilnehmende von außerhalb extra zur Demo angereist sind, vermute ich zudem, dass dieses Ereignis auch für die Leipziger "Querdenken"-Bewegung weiter identitätsstiftend war.
Und dabei ist es den Teilnehmern egal, dass Rechtsextreme ihnen den Weg geebnet haben?
Die Personen, die die Demonstrationen anmelden, argumentieren, dass sie es nicht beeinflussen können, wer bei einer Demo mitläuft. Sie seien nicht dafür verantwortlich, nur weil sie die Demo angemeldet haben. Andere Stimmen sagen, dass das gemeinsame Ziel das Wichtige ist, nämlich der Sturz der Regierung beispielsweise oder das Regieren des Volkswillens. Was auch immer das sein soll. Den gibt es, glaube ich, in der Form nicht. Weil das übergeordnete Ziel über alles gestellt wird, ist es für viele, die sich der "Querdenken"-Bewegung zugehörig fühlen, dann auch okay, dass tendenziell rechtsextreme, antisemitische oder andere antidemokratische Gruppierungen mitlaufen.
Wenn es den Teilnehmern und Anmeldern so egal scheint, dass radikale Kräfte mit ihnen demonstrieren, radikalisiert sich die "Querdenken"-Bewegung dann gerade selbst?
Über die Radikalisierung der Bewegung können wir noch nicht viel sagen. Es gibt Äußerungen von manchen Schlüsselfiguren der Bewegung, die sehr stark in diese Richtung weisen, aber weil die Bewegung so divers ist, kann man das noch nicht pauschal sagen. Aus einer wissenschaftlichen Sicht wohnt Verschwörungserzählungen und -ideologien generell ein Radikalisierungspotenzial inne – auch unabhängig von "Querdenken". Denn Verschwörungserzählungen konstruieren oft ein Bedrohungsszenario, einen Ausnahmezustand, der erstens einen erhöhten Handlungsdruck erzeugen und zweitens die eventuellen Handlungen anschließend rechtfertigen kann.
Diese Verschwörungserzählungen sieht man aber schon bei den "Querdenkern"?
Verschwörungserzählungen sind ein sehr großer Aspekt, der diese sehr diverse Bewegung vereint. Es gibt Hinweise darauf, dass es nicht um eine konkrete Sorge um die Demokratie oder den Widerstand gegen eine Corona-Diktatur, sondern um andere Bedürfnisse geht, die dahinter liegen.
Was sind diese Bedürfnisse, die die "Querdenker" haben?
Die Forschung zeigt, dass eben die Verhältnisse, in denen wir leben, in der globalisierten, vernetzten Welt als sehr komplex und undurchschaubar wahrgenommen werden. In unserer Gesellschaft wird abstraktes Wissen zudem immer wichtiger. Wir sind abhängig von Fachleuten, Wissenschaft und Technik. Unmittelbare Erfahrung verliert dadurch an Wert und man fühlt sich selbst nicht mehr so wirksam. Beispiel: Ich selbst kann nicht verstehen, wie der Virus funktioniert, deswegen bin ich abhängig von Forschenden. Wenn man dann aber sieht, dass diese Forschenden auch nicht die absolute Sicherheit geben können, weil der Forschungsgegenstand noch in der Entwicklung ist, dann gibt es leider nicht die Sicherheit, die man gerne hätte, nämlich die Sicherheit, dass irgendjemand unfehlbar ist und sich um uns kümmert. Die Wissenschaft ist keine Instanz, die eine totale Sicherheit geben kann und die deswegen vielleicht auch abgelehnt wird.
Wohin führt die fehlende Sicherheit?
Dieses Ohnmachtsgefühl kann zu autoritären Wünschen führen. Einen davon nennen wir in der Wissenschaft die Verschwörungsmentalität. Das ist eine grundlegende Bereitschaft hinter gesellschaftlichen und politischen Phänomenen ein intendiertes und geheimes Handeln kleiner mächtiger Gruppen zu vermuten. Das hat dann den Gewinn, dass man mit dem Erkennen von Mustern in diesem Chaos das Gefühl von Kontrolle wiedererlangt und das Gefühl von Ohnmacht ein bisschen loswerden kann. Dadurch, dass ich weiß, wer dahintersteht, gibt es mir ein Gefühl, der Situation Herr oder Frau zu werden. Und ich erhöhe mich, als jemand der alles durchschaut und andere eventuell auch noch aufklären kann, die bisher "geschlafen" haben.
- Telefonat mit Clara Schließler, Else-Frenkel-Brunswick-Instituts für Demokratieforschung der Universität Leipzig
- Eigene Recherche